Moers. . Jürgen Schmude war Minister im Kabinett Schmidt. Er hat die 68er in Moers erlebt. Er hat sie respektiert - aber die Revoluzzer waren ihm suspekt.

Vor 50 Jahren rebellierte die Jugend in Deutschland, gegen die biedere Nachkriegsordnung und gegen das kollektive Vergessen der Naziverbrechen, für Gleichberechtigung, Frieden und eine neue sexuelle Freizügigkeit. Die 68er-Bewegung erreichte nicht nur die großen Städte. Der frühere Bundesminister Jürgen Schmude erinnert sich im Gespräch mit Jan Jessen an seine Erlebnisse mit den jungen Revolutionären in Moers.

Herr Schmude, 1968 waren Sie Rechtsanwalt und saßen für die SPD im Moerser Stadtrat. Sie gehörten also schon zu den „Etablierten“. Wie haben Sie die 68er erlebt?

Jürgen Schmude: Ich gehörte nicht zu ihnen, ich hatte Distanz zu ihnen. Aber ich habe respektiert, was sie ansprachen und hatte den Eindruck, dass sie ein Teil der Wendebewegung waren, weg von einem autoritären System, in dem Amtsinhaber des Amtes wegen respektiert wurden, obwohl sie in ihren Leistungen nichts dergleichen verdienten. Sie waren in ihren Umgangsformen zum Teil abstoßend, aber auch wieder anregend, und sie haben dazu beigetragen, ein Klima zu schaffen, in dem später die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt gut gedeihen konnte.

Inwiefern war diese Bewegung anregend?

Sie hat wichtige Anstöße gegeben. Im Wahlkampf 68/69 waren die 68er das belebende Element. Ich habe damals in Moers kandidiert und in den Wählerdiskussionen und Wahlveranstaltungen ständig Menschen dabei gehabt, die zu den 68ern gehörten und diese repräsentierten, und die mischten diese Veranstaltungen auf. Es mag ja sein, dass mir das besser gefallen hat, als dem CDU-Konkurrenten, obwohl ich manches von ihnen zurückgewiesen oder korrigiert habe, aber sie haben richtig schön mitgemacht, so dass ich sie schon im Wahlkampf 1972 regelrecht vermisst habe.

Die 68er-Bewegung war eine hauptsächlich von Studierenden getragene. Moers ist keine Universitätsstadt.

Das ist richtig. Wir hatten damals auch nur 50 000 Einwohner, die kommunale Neuordnung stand noch aus. Es gab aber durchaus auch in Moers Menschen, die von diesem Geist beseelt waren, obwohl wir keine Großstadt waren. Auch hier traf man diese jungen Leute, die mir zuriefen, ich solle mich mal vernünftig informieren und 80 Pfennig nehmen, um mir die Frankfurter Rundschau zu kaufen. Da könnte ich lesen, was sie für richtig halten. Ich habe das übrigens auch gemacht.

Trotzdem hielten Sie Distanz, sagten Sie. Warum?

Viele Umgangsformen, viele Ansichten, manches rabiate Benehmen erschien mir dann auch wieder befremdlich, wenn nicht sogar abstoßend. Die Formen in denen sie auftraten, die waren so, dass man es mit dem Respekt nicht übertrieb, dann das uniforme Outfit, das sie zeigten, die Bärte, die sie uns vorführten, und auch mancherlei Rituale waren nicht für jeden besonnenen Menschen eine große Attraktion. Und natürlich hatte ich die Sorge, dass mancher, der damals aus einer Jugendperspektive heraus rabiat auf der linken Seite ist, später rabiat auf der rechten Seite ist und auf der anderen Seite des politischen Spektrums sitzen würde oder ganz wegtauchte. Das hat sich einer Reihe von Einzelfällen bestätigt.

Jürgen Schmude
Jürgen Schmude © imago stock&people

Galt diese Distanz für die SPD insgesamt?

Die Aufgeschlossenheit unter den sozialdemokratischen Wählern war schon größer als die der christdemokratischen für diese Jugendbewegung. Es war eine Jugendbewegung, auch wenn viele Ältere mitmachten. Aber dass 68er Parteianschluss suchten und fanden, war damals eher die Ausnahme.

Das hat sich später geändert.

Richtig. Der Weg durch die Institutionen, den die 68er sich schließlich selbst empfahlen und den insbesondere die Grünen vollzogen haben, der fand durchaus statt. Wir haben heute sozialdemokratische Funktions- und Mandatsträger, die aus der 68er-Bewegung stammen und die ganz solide arbeitende Politiker geworden sind, weitab von den Umgangsformen, die sie damals pflegten. Aber es war nicht die Regeln. Es gab zunächst Distanz. Es gab gegen die SPD der großen Koalition und der Notstandsgesetze erhebliche Vorbehalte.

Sie sagen, dass Sie die Lebhaftigkeit der 68er im Wahlkampf 1972 vermissten. Was war geschehen?

Ich habe den einen oder anderen auf der Straße angesprochen und gefragt, wo sie bleiben und die Antwort war oft: Bauch, Brille, Baby, banger Blick. Ich bin inzwischen Referendar, da muss ich mich zurück halten, sagten mir die Leute. Da war von der Forschheit bei manchen nichts mehr zu spüren.

...andere entwickelten sich aber im politischen Raum weiter.

Ja, es gab Anfänge einer Umweltschutzbewegung, die dann später in die Grünen übergangen sind, weil die SPD mit dem Vorrang für Arbeitsplätze und rauchende Kamine den Umweltschutz nicht hinreichend besetzen konnte. Die Grünen erinnerten in ihrer Anfangszeit durchaus an die 68er, als skurriles Völkchen, das die Bundestagsdiener zuerst nicht hereinlassen wollten, als sie das erste Mal in den Bundestag gewählt wurden, weil sie sagten: Das sind doch die Leute, die wir immer rausgeschmissen haben. Aber man sieht ja heute, wie sehr sie sich normalisiert haben.

Erinnern Sie sich an spezielle Vorkommnisse oder Aktionen der 68er in Moers?

Ich kann mich daran erinnern, wie einige der damals hier aktiven 68er versuchten, eine NPD-Kundgebung hier in Moers zu verhindern. Der Kundgebungsplatz war mit zwei Reihen Stacheldraht eingezäunt und der Kreis-NPD-Vorsitzende marschierte zwischen den beiden Drahtverhauen hin und her, um auch zu beaufsichtigen, dass niemand durch kam. Und jemand von unseren Leuten, der später eine größere Rolle spielte im Kulturbereich, der sprang über den Stacheldraht, nahm dem NPD-Vorsitzenden den Hut ab, schlug ihm ein frisches Ei auf den Kopf und setzte ihm den Hut wieder auf denselben. Es gab aber auch Rempeleien und dergleichen, es gab anschließend bis ins Jahr 1970 Strafverfahren gegen die Beteiligten die aber durch ein Amnestiegesetz zur Änderung des Versammlungsrechts erledigt wurden.

Was haben die 68er verändert?

Sie hatten in vielem recht. Diejenigen, die fragten, wie es eigentlich mit der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen und der nationalsozialistischen Verquickung unserer Eltern und der älteren Generation hier ausschaut. Was es hier aufzuarbeiten und zu lernen gab, das hat mich jahrelang, ja jahrzehntelang beschäftigt. Da gab es auch in der SPD Funktionäre auf der örtlichen Ebene, von denen man später erfuhr, dass sie Richter an Sondergerichten waren, wo es mit Todesurteilen nicht sonderlich knapp zuging. Es hat uns eingeleuchtet, dass sie sagten: Wie geht ihr eigentlich mit den Frauen um? Gleichberechtigung ist doch nur ein Wort, das im Grundgesetz steht. Wir haben dann später in der Reform des Ehe- und Familienrechts, die 1977 in Kraft trat, eine ganze Menge getan, haben uns aber auch selbst gewundert, wie rückständig das bürgerliche Gesetzbuch bei uns mit der Rolle der Frauen umging, obwohl nach 1953 schon mal eine große Reform stattgefunden hatte.

Unterm Strich haben die 68er die Republik also zum Positiven verändert?

Es ist angemessen, scharf hinzusehen und festzustellen, was es Positives und was es Befremdliches gebracht hat. Viele Menschen, zumal unmittelbar Betroffene, haben das Befremdliche im Vordergrund ihrer Erinnerungen. Ich kann verstehen, wenn Professoren, denen man übel mitgespielt hat, auch solchen, die sehr aufgeschlossen waren, die aber trotzdem geradezu niedergepöbelt wurden, wenn die sich an ihre Demütigungen und Gewalttätigkeiten und Anderes erinnern. Das alles war wirklich sehr befremdlich. Das hat mich auch daran gehindert, mich bei den 68er irgendwie einzugliedern. Auf der anderen Seite ist auch der verrückte Schreihals nicht davor gefeit, Wahrheiten zu sagen und richtige Richtungen anzudeuten. Man muss auch sehen, was es uns gebracht hat. Und es hat uns eine erhebliche Auflockerung unserer starren Sichtweise auf die bestehenden Verhältnisse gebracht.

Prägen die 68er auch heute noch den Zeitgeist?

Das könnte ich so überhaupt nicht unterschreiben. Wenn jemand in einer bestimmten historischen Phase nützliche Veränderungen bewirkt, dann, und so geht es allen, hat das zeitlich begrenzte Wirkung. Natürlich: Was verändert worden ist, ist verändert worden. Und natürlich hat es die ganze Republik weiter gebracht. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie die Reformgesetze der Brandt-Regierung von der damaligen CDU-Opposition verteufelt worden sind, und wie sie nach ihrer Machtübernahme durch Kanzler Helmut Kohl nahezu nichts davon verändert hat, dann sehe ich darin, dass der historische Prozess eine weitergehende Wirkung hat, die auch noch heute ihre Bedeutung hat. Aber dass die 68er prägend geworden wären für Haltung und Meinung einer relevanten Mehrheitsgruppe in der Bevölkerung, das ist blanker Unsinn.