Genf/Duisburg/Kleve. . Auf einem Schweizer Truppenübungsplatz entscheidet sich Mittwoch, ob ISAR Germany erneut als offizielle Hilfsorganisation der UN anerkannt wird.
Dutch hat es zu gut gemeint: Hinter der Europalette hat er einen Vermissten aufgestöbert – und mit ein paar Tatzenhieben hat er sie umgeschubst und schlüpft in die vom Erdbeben zerstörte Ruine. Mit einem energischen Ruf holt Sonja Späth ihn wieder ans Tageslicht. Die Europalette war mit rotem Flatterband und schwarzer Folie markiert: Die Europalette spielt eine undurchdringliche Wand.
Die Frauen und Männer vom Team „ISAR Germany“ wissen das und respektieren die Spielregeln – für die vierbeinigen Mitarbeiter ist es etwas schwerer zu begreifen, dass das hier alles nur eine Übung ist. Wobei: „nur“ ist einigermaßen untertrieben. Seit 20 Jahren zertifiziert die UNO internationale Rettungsteams – und diese Teams müssen professionell arbeiten und das alle fünf Jahre unter Beweis stellen. In dieser Woche geschieht das auf einem Übungsplatz der Schweizer Armee, die ein ganzes vom Erdbeben zerstörtes Dorf auf ihrem Übungsplatz gebaut haben.
Es ist zehn Stunden her, seit der Hund angeschlug
Für ISAR Germany steht in dieser Woche die zweite Überprüfung ihres Zertifikats an – alle fünf Jahre muss sie sich den kritischen Augen der Prüfer der UNO stellen. Heute sitzt Gwyn Lewis auf den Betontrümmern gegenüber einem um rund 30 Grad geneigten Trümmerhaufen, auf dem „Casino“ steht.
Mittlerweile ist es fast zehn Stunden her, dass Dutch angeschlagen hat. Über Nacht haben sie einen „Cold Cut“ gemacht: Ein etwa ein Quadratmeter großes Stück Beton aus der Decke des eingestürzten Gebäudes gesägt, ein Dreibein hat den Klotz gesichert, er liegt jetzt neben dem Loch auf dem Dach – den Brocken ins Gebäude fallen zu lassen, hätte die Statik gefährden können, selbst wenn die ISAR-Erkunder mit Hunden und Kamera erkundet haben, ob jemand unter dem Einstiegsloch liegt.
Innen im Gebäude haben die Retter eine weitere Wand aufgestemmt, jetzt können sie den Verschütteten bergen. Sorgfältig wird er in einer Trage gesichert – eine erste Untersuchung hat den Verdacht auf eine Rückenverletzung geweckt. Also muss er fest verschnürt werden, ehe er im Schleifkorb aufs Dach gehoben und dann per Seilzug vorsichtig über die Straße hinweg den Helfern am Boden entgegen schwebt.
Die Truppe muss sich zehn Tage lang selbst versorgen
Gwyn Lewis – einer der fünf internationalen Experten, die die Arbeit der ISAR bewerten, macht sich Notizen. Das Siegel der UN ist kein Geschenk, macht er deutlich. Und das weiß auch Daniela Lesmeister, die Präsidentin des ISAR. Die Beigeordnete für Recht und Ordnung in Duisburg zählt auf: Logistik, Koordination, Suchen, Bergen und Medizinische Versorgung sind die Kriterien.
Zur Logistik gehört übrigens auch, dass die Truppe sich selbst für zehn Tage versorgen kann – sonst werden die Retter im Katastrophengebiet zur Last. Und sie müssen mit den lokalen Behörden zusammenarbeiten, die Einsatzstellen absprechen und einander unterstützen. So wie das hier mit dem Technischen Hilfswerk geschieht – der einzigen weiteren deutschen Organisation, die das UNO-Siegel tragen darf.
Denis Comtesse gehört seit 2008 zu ISAR, irgendwann hat der Physiker die Uni verlassen und ist Feuerwehrmann geworden – heute arbeitet er in Duisburg hauptamtlich bei der Wehr, als Einsatzleiter sitzt er aber für seinen Geschmack zu viel im Büro. Und auch die Mitgliedschaft bei der Freiwilligen Feuerwehr Homberg lastet ihn noch nicht aus. „Ich habe halt ein Helfersyndrom“, sagt er achselzuckend. „So wie viele von uns. Es wäre Quatsch, das zu leugnen.“
„Es gibt immer Dinge, die man verbessern kann“
Menschen wie er werden von ISAR gesucht. „Wir brauchen Leute, die ihre professionellen Kenntnisse einbringen“, sagt Daniela Lesmeister. „Feuerwehrleute, Ärzte, Intensivpfleger, Menschen mit Managementfähigkeiten.“
Sie alle tragen das blaue UN-Siegel am Ärmel – und ob das auch in Zukunft so bleiben darf, entscheidet sich am heutigen Mittwoch. Gwyn Lewis aus Swansea in Wales hat sich während der Bergung reichlich Notizen gemacht. Er gibt sich optimistisch, und diplomatisch: „Es gibt immer Dinge, die man verbessern kann“, sagt er. Der Feuerwehrexperte aus Großbritannien betont aber auch: „In Europa sind die Standards mittlerweile ziemlich einheitlich – und die Vorgehensweisen auch.“
Nach der Bergung geht es für die ISAR ein paar Ruinen weiter. Vorbei an
zerlumpten Gestalten, die mit ihren eigenen Vorstellungen von der Rettung dazustoßen. Sich nicht durch protestierende Einheimische ablenken lassen, auch das gehört dazu. Hier sind es Schweizer Reservisten als Laienschauspieler. Die „Figuranten“, wie die Darsteller in schönstem Schwyzerdütsch heißen, müssen sich mit aufgemalten Wunden mühsam unter die Trümmer quetschen. Keine angenehme Lage, daher werden sie nach vier Stunden durch ein anderes „Erdbebenopfer“ abgelöst.
Die Retter arbeiten drei Mal so lange – und nebenbei bauen sie noch ihr eigenes Basislager auf, und zudem sorgt das Leben für ein paar zusätzliche Proben: Ein Mitglied des Teams muss mit Nierenproblemen ins Krankenhaus, einer ihrer LKWs blieb im vom Dauerregen aufgeweichten Boden stecken. Auch derlei ungeplante Einsätze muss die ISAR quasi nebenbei selbstständig regeln – denn im Katastrophenfall gibt es für die Retter keine Retter.
„Die physische Belastung ist hier mit einem echten Einsatz vergleichbar“, sagt Daniela Lesmeister. „Die psychische Belastung lässt sich nicht simulieren.“ Und eine Feier, wie sie am heutigen Mittwoch ansteht, wenn die Rezertifizierung erfolgt ist, auch nicht. Für Dutch und seine beiden vierbeinigen Kollegen ist es hingegen wie immer: Verschüttete aufzuspüren ist für ihn es immer ein spannendes Spiel, für das Sonja Späth ihn lange tätschelt und mit Leckerchen belohnt.
>>> INSARAG und ISAR
Im Katastrophenfall ist nicht nur schnelle Hilfe gefragt, sie muss auch koordiniert und professionell sein. Um das sicherzustellen, hat sich 1991 die INSARAG gegründet: Die Organisation zertifiziert für die UN Rettungsstaffeln, die bei Erdbeben, Überflutungen und Wirbelstürmen von den betroffenen Ländern angefordert werden können – und nur dann rücken die Profi-Retter aus.
Die ISAR (die englische Abkürzung steht für International Search-and-Rescue, auf Deutsch: Internationale Such- und Rettungstruppe) mit Sitz in Duisburg und der Geschäftsstelle in Kleve, hat rund 170 aktive Retter in ganz Deutschland – die entsandten Teams sind 50 Leute stark.
Sechs Stunden nach Alarmierung sind die Helfer startklar – vom Frankfurter Flughafen geht es dann weltweiten Schauplätzen von Katastrophen: Erdbeben in Haiti und Nepal, Überflutung auf den Philippinnen.
Rund 30 Einsätze haben die Retter seit 2003 geflogen, um weltweit zu helfen. Freiwillig, ohne Entschädigung oder Lohnkostenersatz. Denn die ISAR finanziert sich, anders als das Technische Hilfswerk, komplett über Spenden und Sponsoren. Weitere Infos: www.isar-germany.de