Essen. Atemnot und Augentränen bringen immer wieder Schüler ins Krankenhaus. Schuld sind Reizgase und Pfefferspray – aus Angst vor Terror gehortet.
- Rettungskräfte werden nach Pfefferspray-Vorfällen in Schulen gerufen
- Konkrete Zahlen oder Statistiken zu den Einsätzen gibt es nicht
- Reizgas Zwischenfälle auch in Arztpraxis und am Flughafen
Terroranschläge und die Kölner Silvesternacht-Ereignisse vor fast einem Jahr haben einen Boom entfacht. Elektroschocker, Pistolen, vor allem aber Reizgase und Pfefferspray gehen massenweise über die Ladentheken. Menschen wollen sich „privat“ wehren können. Die Polizeipräsidien ersticken in Anträgen für einen „Kleinen Waffenschein“.
Waren in NRW Anfang des Jahres nur 74.000 Menschen im Besitz dieses Scheins, wuchs die Zahl bis Ende September auf 115.000. Damit sind hier bereits 6,4 der Papiere je 100.000 Einwohner ausgegeben. Das liegt weit über dem Bundesdurchschnitt mit 5,4. Die Regionen an Rhein und Ruhr werden zum „Hot Spot“ in Deutschland, weit vor Bayern auf Platz 2.
An vielen Schulen in NRW kam es zu Zwischenfällen
Spüren ausgerechnet Schulen jetzt die ersten unerwünschten Folgen des Selbstverteidigungs-Trends? Notarzt, Polizei und Feuerwehr sind in diesem Jahr fast zwei Dutzend mal in Klassenräume und Schulflure gerufen worden, weil dort offenbar Reizgas oder Pfefferspray freigesetzt wurde, alleine in Dortmund seit Ende November drei Mal.
Anfang Dezember klagten Schüler der Gesamtschule Gartenstadt plötzlich über tränende Augen und Atemprobleme, drei mussten ins Krankenhaus. Es war der dritte Fall innerhalb weniger Wochen in der Stadt. Vorher waren Ende November eine Realschule und ein Gymnasium betroffen.
Auch Ratingen, Mülheim und Wuppertal, Altena und Bochum melden Einsätze. In einer Berufsschule in Dinslaken gab es sieben Verletzte. Einen der umfangreichsten Hilfseinsätze hatte im Juli Gladbeck zu bewältigen. 18 Schüler und Schülerinnen und eine Lehrerin mussten nach den üblichen Symptomen – Augentränen, erschwerte Atmung – ins Krankenhaus. Einsatzkräfte aus Gelsenkirchen, Essen und Bottrop unterstützten die Gladbecker Feuerwehr.
Häufig ist nicht festzustellen, ob Reizgas verwendet wurde
Konkrete Zahlen gibt es dazu nicht, eine Statistik wird nicht geführt. Jörg Schmidt, der Vorsitzende des Arbeitskreises Rettungsdienste der NRW-Berufsfeuerwehren, sagt, die Zahl dieser Einsätze liege auch 2016 im Mittel der letzten Jahre. Aber es gebe immer mal Schübe. „Da passiert etwas an einer Schule, dann kommen die Trittbrettfahrer. Das ist wie ein Tabubruch.“
„Gefühlt“ gebe es hier in den letzten Monaten eine Steigerung, sagt das Regierungspräsidium in Arnsberg, dessen Schulaufsicht für weite Teile des östlichen Ruhrgebiets zuständig ist. Doch: Meistens könne man nach aufwändigen Rettungseinsätzen gar nicht feststellen, ob am Ende wirklich Reizgas den Alarm ausgelöst hat oder nur ein anderer Geruchsstoff.
Auch in Arztpraxis und am Flughafen gab es einen Einsatz
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Nicht nur Schulen sind betroffen. In Mülheim kam es in einer Arztpraxis zu einem Zwischenfall. Eine Frau hatte Reizgas im Fahrstuhl verteilt. Zwei Patienten mussten behandelt werden. In Düsseldorf stritten sich zwei Mädchen an einer Bushaltestelle. Eine sprühte der anderen Pfefferspray direkt ins Gesicht.
Und am Morgen des 24. Oktober sperrte die Bundespolizei einen Teil des Düsseldorfer Flughafen für eine halbe Stunde. 13 Angestellte der Fluggastkontrolle hatten über Reizungen der Schleimhäute geklagt. Bei der Untersuchung konnten die Ermittler Geruchsspuren im Bereich der Bordkartenkontrolle feststellen, die kurz ganz schließen musste.
Reizgas ist eigentlich als Schutz vor Tierangriffen gedacht
Meist endet die Fahndung nach dem Urheber im off. Reizgase und auch Pfefferspray verflüchtigen sich sehr schnell, auch die Beschwerden verschwinden. Woher die Stoffe kommen? Der Kauf von Pfefferspray ist an keine Altersgrenze gebunden, der von Reizgas ab 14 Jahren möglich. Sie sind in jeder Drogerie erhältlich. In den genannten Fällen gab es vielfach den Verdacht, dass Schüler Spray von zu Hause mitgebracht hatten.
Dabei kann die Freisetzung der Chemikalien gefährlich sein, warnt Feuerwehr-Experte Jörg Schmidt. „Reizgase sind nicht für den Einsatz gegen Menschen vorgesehen, sondern bei Angriffen zum Beispiel von Hunden“. Würde sich der Stoff in geschlossenen Räumen – wie Klassenzimmer – verteilen, könne dies für Asthmatiker oder auch nur schwerer an Infekten erkrankten Menschen durchaus Lebensgefahr bedeuten.
Viele Bürger wollen aus Angst kleinen Waffenschein beantragen
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Wuppertals Polizeipräsidentin hat die Notbremse gezogen. Nachdem ihre Behörde nach den Silvestervorfällen in Köln von Januar bis März 1300 Anträge auf Erteilung eines kleinen Waffenscheins auf dem Tisch hatte, schrieb sie an alle Antragsteller einen Brief und forderte sie auf, auf diese Art der Selbstverteidigung zu verzichten.
„Wir als Polizei raten ab, Abwehrsprays und andere Abwehrwaffen mitzuführen“. Sie brächten „besondere Gefahren und Risiken“ mit sich. „Jede Unsicherheit in der Handhabung kann fatale Folgen für Sie und Unbeteiligte haben.“ Der Brief hat gewirkt. Die Zahl der Anträge reduzierte sich in der bergischen Stadt drastisch.