An Rhein und Ruhr. Fast zwei Millionen Kinder in Deutschland lebten im vergangenen Jahr in Haushalten, die von Hartz IV abhängig sind. Trotz der brummenden Konjunktur und der niedrigen Arbeitslosenzahlen hat ihre Zahl zugenommen. In Nordrhein-Westfalen wuchs 2015 fast jedes fünfte Kind in ärmlichen Verhältnissen. Ein Überblick über die Region an Rhein und Ruhr.

Am vergangenen Donnerstag ist am Spielhaus in Mattheck wieder der orangefarbene Bus vorgefahren und er war schnell voll, wie immer in den vergangenen Jahren. Es gab Kartoffelstampf, Hähnchenschenkel, Ratatouille und als Nachtisch Sahnequark mit Kirschen, und nach den eineinhalb Stunden war kaum noch etwas übrig, weil die Kinder so großen Hunger hatten. „Kinder essen auf Vorrat“, sagt Marion Trummer. Die Kinderarmut in Deutschland wächst, sagen die Statistiker. Frau Trummer braucht nicht in Statistiken zu schauen, um das zu wissen. Sie erlebt sie ständig.

Der orangefarbene Bus ist die mobile Moerser Kindertafel, ein Projekt des Vereins „Klartext für Kinder“ der von der NRZ initiiert wurde. Marion Trummer ist die Leiterin des Projekts. Seit April 2010 fährt der Bus die Gegenden in Moers und Kamp-Lintfort an, die als „soziale Brennpunkte“ bezeichnet werden und versorgt bedürftige Kinder mit gespendeten Mahlzeiten. 40 bis 60 sind es allein jeden Donnerstag im Moerser Stadtteil Mattheck.

Die Statistiker sagen: Fast zwei Millionen Kinder in Deutschland lebten im vergangenen Jahr in Haushalten, die von Hartz IV abhängig sind. Trotz der brummenden Konjunktur und der niedrigen Arbeitslosenzahlen hat ihre Zahl zugenommen. In Nordrhein-Westfalen wuchs 2015 fast jedes fünfte Kind in ärmlichen Verhältnissen auf, wie die Bertelsmann-Stiftung in einer gestern veröffentlichten Studie aufzeigt.

Regionale Unterschiede

Regional gibt es deutliche Unterschiede, in den Städten sind die Zahlen generell höher als auf dem Land. In Essen sind fast dreimal so viele Kinder von Armut bedroht wie im Kreis Kleve, wohin es weniger Zuwanderer verschlägt, wo mehr Menschen Arbeit haben und die sozialen Netzwerke stärker sind als in der Stadt.

Was Kinderarmut bedeutet, führen die Autoren der Bertelsmann-Stiftung nüchtern auf: „Ungesunder und unzureichender Wohnraum, kein eigenes Zimmer, kein Rückzugsort für Schularbeiten, nicht regelmäßig eine warme Mahlzeit am Tag und auch ein geringer bis kein Verzehr von Obst und Gemüse gehören für viele zum Alltag.“ Marion Trummer hat in der mobilen Tafel immer wieder Kinder zu Gast, „denen man ansieht, dass sie bis zum Mittag noch nichts gegessen oder getrunken haben“.

Sorgen bereitet den Autoren der Studie, dass eine Mehrheit der betroffenen Kinder über längere Zeit in der Armut feststeckt: Im Schnitt sind 57,2 Prozent der betroffenen Kinder zwischen sieben und 15 Jahren mehr als drei Jahre auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. „Je länger Kinder in Armut leben, desto gravierender sind die Folgen“, sagte Anette Stein, Familienpolitik-Expertin der Stiftung. Arme Kinder wachsen sozial isolierter auf, sind häufiger krank und haben öfter Probleme auf ihrem Bildungsweg als Altersgenossen, deren Eltern keine finanziellen Sorgen haben, sagt Stein.

In Moers besuchen sechs Geschwister die Kindertafel bereits seit sie gegründet wurde. „Der Vater arbeitet, aber es reicht einfach nicht“, berichtet Marion Trummer. Das höchste Armutsrisiko hat der Nachwuchs von Alleinerziehenden oder aus kinderreichen Familien, sagen die Statistiker.

Lars Schäfer, Fachreferent für Armut und Grundsicherung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, betont: „Es ist besonders wichtig, alleinstehenden Müttern den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dabei spielt natürlich vor allem die Betreuung der Kinder eine große Rolle.“ In NRW haben es sich viele private Initiativen zur Aufgabe gemacht, bedürftigen Kindern zu helfen. Manche mit innovativen Ansätzen: Beim Online-Shop „librileo“ können Familien mit Anspruch auf Sozialleistungen online ein Formular ausfüllen. Librileo schickt dann alle drei Monate kostenlose Pakete mit einem Lesebuch, einem Sachbuch und einem Spiel. Ansätze, die Symptome bekämpfen, aber nicht die Ursachen. In Mattheck wird am Donnerstag wieder der orangefarbene Bus halten.