Düsseldorf. . Die NRZ feiert in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag – aus diesem Anlass öffnen wir 70 Türen. Vier Leser waren zu Gast bei Schulminsterin Sylvia Löhrmann.

Jutta Blüggel-Kolling aus Essen unterrichtet auch an einer Förderschule.
Jutta Blüggel-Kolling aus Essen unterrichtet auch an einer Förderschule. © Kai Kitschenberg

Das Schulministerium an einem Wochentag. Es herrscht hektische Betriebsamkeit. Mitarbeiter mit Laptops unterm Arm und laufen durch die Gänge. Im dritten Stock sitzen vier Leser und Leserinnen der NRZ zusammen mit Bildungsministerin Sylvia Löhrmann von den Grünen. Es werden Fragen gestellt und diskutiert. Die stellvertretende Ministerpräsidentin von NRW hat sich viel Zeit genommen, antwortet geduldig und ausführlich. Den von der NRZ eingeladenen Gästen merkt man an: Sie sind vom Fach.

Warum werden Fachlehrer an Sonderschulen immer noch schlechter bezahlt als Sonderschullehrer, möchte Jutta Blüggel-Kolling aus Essen von der Ministerin wissen – seit über 30 Jahren unterrichtet die Essenerin selbst als Fachlehrerin an einer Förderschule.

JubiläumLöhrmann: „Die Frage ist nicht neu. Der Hintergrund ist kein bildungs- oder schulpolitischer, sondern ein besoldungspolitischer. Die Einstufung von Lehrerinnen und Lehrern hängt von der Form der Ausbildung und des Studiums ab. Das wird von Betroffenen als ungerecht empfunden, das kann ich nachvollziehen. Fachlehrerinnen und Fachlehrer haben kein Studium mit erstem und zweitem Staatsexamen abgeschlossen, und das ist Voraussetzung, um in die klassische Lehrerlaufbahn einzusteigen. Diesen Umstand hat weder diese Regierung geändert, noch die Vorgängerregierung. Das liegt daran, dass wir in Deutschland ein sehr formalisiertes, akademisches Verständnis von bestimmten Berufen haben. Man kann auch mit gutem Recht darüber streiten, einen Hauptschullehrer in einem sozialen Brennpunkt schlechter zu bezahlen als einen Oberstudienrat im Villenviertel – um es überspitzt zu sagen. Das ist dienstrechtlich gewachsen, aber es ändert nichts an der Wertschätzung Ihrer Arbeit und der Ihrer Kolleginnen und Kollegen.“

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A © Kai Kitschenberg

Als Elternvertreterin einer auslaufenden Realschule in Emmerich berichtet Silke Peschel von massivem Lehrermangel. In Mathe fallen in der Woche 30 Stunden aus, Physik und Musik werde gar nicht mehr unterrichtet. Doch nicht nur an ihrer Schule gibt es dieses Problem, sagt Peschel. Im nördlichen Teil des Kreises Kleve blieben viele Stellen unbesetzt. Was kann die Politik machen, dass auch dort Lehrer hinkommen, möchte die Schulpflegschaftsvorsitzende wissen.

Löhrmann: „Es gibt zwei Instrumente, die wir in Regionen, in denen es schwer sein kann die Lehrerstellen auch faktisch zu besetzen, anwenden. Das ist zum einen das vorgezogene Listenverfahren: Zum Schluss ihrer Ausbildung erhalten die Referendarinnen und Referendare noch vor ihrem Abschluss das Angebot, an ihrer Ausbildungsschule eine feste Stelle zu bekommen. Damit haben wir im Bereich des Sieger- und Sauerlandes gute Erfahrungen gemacht. Die zweite Möglichkeit ist, mit Abordnungen zu arbeiten. Lehrerinnen oder Lehrer von Schulen mit geringerer Auslastung wechseln für ein paar Stunden an Schulen, an denen Lehrpersonal fehlt.

Wir haben durch die auslaufenden und die neu entstehenden Schulen ein strukturelles Problem in der Übergangszeit. Es gibt im Moment mehr Schulen, als wir perspektivisch brauchen. Je kleiner die auslaufende Schule wird, je weniger Jahrgänge da sind – umso weniger Lehrerbedarf bedeutet das. Insofern sind an vielen auslaufenden Schulen Lehrkräfte eingesetzt, die zum Teil an andere Schulen mit Lehrkräftebedarf abgeordnet werden. Das ist ein sehr komplexer Prozess. Die Schulaufsicht bemüht sich gemeinsam mit den Schulen, Lösungen zu finden. Ziel ist, dass auch an auslaufenden Schulen genügend Lehrkräfte sind, um einen geregelten Unterricht sicherzustellen. Im Zweifelsfall muss mit Abordnungen gearbeitet werden. Diese enge Steuerung beißt sich mitunter mit dem Prinzip der selbstständigen Schulen. Denn wir wollen, dass sich Lehrerinnen und Lehrer bewerben, weil sie an eine bestimmte Schule wollen und die Leitung soll Lehrkräfte auswählen, die zu ihrer Schule passen. Doch wenn in bestimmte Regionen niemand will, muss man mit diesen Maßnahmen arbeiten. Die Sicherung der Unterrichtsversorgung ist ein sehr hohes Gut.“

Der Ingenieur Uwe Meyer ist Klassenpflegschaftsvorsitzender einer Gesamtschule in Duisburg-Homberg. Auch er klagt über Lehrermangel, vor allem in Physik, Musik und Latein. Deswegen fragt der 52-Jährige: Gibt es ein Problem bei der Steuerung der Lehrerausbildung?

Uwe Meyer engagiert sich ehrenamtlich in einer Duisburger Schule.
Uwe Meyer engagiert sich ehrenamtlich in einer Duisburger Schule. © Kai Kitschenberg

Löhrmann: „Wir haben keine Planwirtschaft. Jungen Menschen wird nicht vorgeschrieben, was sie zu studieren haben, um sie dann zwangsweise irgendwo einzusetzen. Als ich mit meinem Lehramtsstudium fertig geworden bin, habe ich glücklicherweise eine von ganz wenigen Stellen bekommen, weil ich nach Solingen an eine Gesamtschule gegangen bin. Das ist ein nicht zu 100 Prozent steuerbarer Prozess. Es gibt natürlich Prognosen und Berechnungen, was den Einstellungsbedarf angeht. Sie beruhen auf Beobachtungen des Lehrerarbeitsmarktes und der Demografie. Wir empfehlen interessierten jungen Menschen, die Lehramt studieren möchten, sich die Prognosen anzuschauen und gegebenenfalls ihre Fächerwahl zu überdenken. Denn es gibt Fächer mit guten und weniger guten Einstellungschancen. Wir sagen auch: Macht Praktika und erprobt, ob der Beruf wirklich etwas für euch ist. Es sollte nicht jeder Lehrerin oder Lehrer werden. Insbesondere im Bereich der technischen Fächer an Berufskollegs gibt es sogenannte Mangelfächer, hier steuern wir mit einem Maßnahmenpaket gegen. Auch Musik und einige Naturwissenschaften zählen zu den Mangelfächern. Wir schauen, wo wir langfristig nachsteuern müssen, und wie die Entwicklungen an den einzelnen Schulen sind, um den Fächerbedarf mittelfristig zu decken. Dabei setzen wir auch auf Kooperation der Schulen untereinander. Wir bilden in NRW offensiv aus. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass wir weiterhin jährlich 9.000 Stellen für Referendare haben. Das kommt uns jetzt sehr zugute, da wir aufgrund der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen nun viel mehr Stellen schaffen und besetzen können, als wir noch vor einem Jahr gedacht haben.“

Meyer: Und wie sieht es mit dem islamischen Religionsunterricht aus?

Löhrmann: „Ich bin froh, dass wir der wachsenden Vielfalt Rechnung tragen und als erstes Bundesland den islamischen Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach eingeführt haben. Ich habe immer betont, dass wir das neue Fach Schritt für Schritt ausbauen. Wir haben die gesetzliche Grundlage für den islamischen Religionsunterricht mit SPD, CDU und Grünen geschaffen und unterstützen die Schulen dabei, dass sie ihn auch anbieten können. Die ersten Referendarinnen und Referendare, die an der Universität Münster islamische Religionslehre auf Lehramt studieren, sind im Jahr 2017 fertig, die ersten Voll-Examinierten dann 2019. Bis dahin werden die Lehrkräfte, die bisher Islamkunde unterrichtet haben, mit Fortbildungen für den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht qualifiziert. Ich entscheide aber nicht, ob sie unterrichten dürfen – genauso wenig, wie ich das bei evangelischen, katholischen oder jüdischen Religionslehrkräften mache. Das entscheidet der ehrenamtliche Beirat, der die Lehrerlaubnis, die sogenannte Idschaza vergibt. Es kommen jährlich mehr Lehrerinnen und Lehrer dazu. Es gibt mehr Lehrkräfte, die die Lehrerlaubnis haben, als tatsächlich unterrichten, weil auch hier nicht immer Angebot und Nachfrage zueinander passen.“

Seit 15 Jahren unterrichtet Norbert Koch an einer Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung in Mülheim. Seine Schüler sind das, was man landläufig „schwer erziehbar“ nennt. Die Unterrichtsbedingungen an seiner Schule haben sich durch eine Änderung im Schulgesetz verschlechtert, sagt Koch. Auf einen Lehrer kommen nun viel mehr Kinder, in anderen Förderbereichen sei das Verhältnis von Lehrern und Schülern hingegen gleich geblieben. Koch sorgt sich darum, dass deswegen die Qualität an den Förderschulen leidet. Er möchte von Sylvia Löhrmann wissen, warum das so gemacht worden ist?

Seit 15 Jahren Lehrer an einer Mülheimer Förderschule: Norbert Koch.
Seit 15 Jahren Lehrer an einer Mülheimer Förderschule: Norbert Koch. © Kai Kitschenberg

Löhrmann: „Wir haben eine einheitliche Schüler-Lehrer-Relation für die drei Förderschwerpunkte der Lern- und Entwicklungsstörungen gebildet. Hintergrund ist, dass die Abgrenzung zwischen den einzelnen Förderschwerpunkten teilweise schwieriger ist. Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ist in der Tat sehr herausfordernd, wie Sie es beschrieben haben. Deswegen hat die Schulaufsicht auch das Instrument, mit zusätzlichen Ressourcen nachsteuern zu können. Bei einer landesweiten Stichprobe kam heraus, dass nur drei Prozent der Klassen größer sind, als sie eigentlich sein sollen. Sobald uns eine Problemanzeige vorliegt, bemüht sich die Schulaufsicht, die Situation bei der nächsten Möglichkeit zu verbessern. Ich habe immer betont, dass es ein erstes Gesetz zur Inklusion ist. Eine Evaluation ist vorgesehen und Hinweise wie diese nehmen wir auf. Uns ist wichtig, allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Gerade die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung haben wir bei der Entwicklung unseres Fortbildungskonzepts berücksichtigt. Insgesamt können Schulen im Bereich Inklusion ein umfangreiches Fortbildungsangebot in Anspruch nehmen.“

Viele Leser, die sich für den Besuch bei der Schulministerin beworben haben, geht das Thema Flüchtlinge durch den Kopf. Wie schaffen wir die Herausforderungen in der Schule?

Löhrmann: „Das Thema ist deshalb so herausfordernd für alle Beteiligten, weil sich die internationalen Krisen natürlich nicht nach deutschen Schulhalbjahren und Haushaltsplanberatungen richten. Ich stehe zu der Aussage, dass wir auf Sicht fahren müssen. Wir werden immer dann nachsteuern, wenn wir neue Erkenntnisse haben. Für das Schuljahr 2014/2015 hatten wir aufgrund der EU-Osterweiterung zunächst schon 300 zusätzliche Integrationsstellen für die Sprachförderung beschlossen. Wir haben als erstes Bundesland Deutsch als Zweit- und Fremdsprache als Pflichtmodul in der Lehrerausbildung eingeführt, das kommt uns jetzt sehr zugute. Als deutlich wurde, dass die Flüchtlingszahlen steigen, haben wir für das Schuljahr 2015/2016 knapp 3.000 zusätzliche Stellen beschlossen, weil wir aufgrund der Prognosen des Bundes davon ausgehen , dass nach und nach etwa 40.000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche neu zuwandern.

Für das Schuljahr 2016/2017 haben wir diese Kalkulation fortgeschrieben. Insgesamt schaffen wir 5.766 zusätzliche Stellen in nur zwei Jahren. Diese zusätzlichen Stellen kommen natürlich allen unseren Schülerinnen und Schülern zugute. Und es ist sehr erfreulich, dass der Großteil der Stellen des Haushalts 2015 bereits besetzt werden konnte. 40.000 zusätzliche Schülerinnen und Schüler mag zwar viel klingen und ist auch eine Herausforderung. Wenn man aber bedenkt, dass wir insgesamt 2,5 Millionen Schüler in NRW haben, dann sind es weniger als ein Prozent. Wir unterstützen und begleiten die Schulen bei ihrer Aufgabe der Integration der zugewanderten Kinder und Jugendlichen. Deswegen bin ich froh, dass wir nicht nur die zusätzlichen Lehrerstellen für den Grundbedarf geschaffen haben, sondern dass wir jetzt auch die multiprofessionellen Teams aufstocken, obwohl Sozialarbeit eigentlich eine kommunale Aufgabe ist. Wir werden also auch Schulpsychologen und weitere Sozialpädagogen und Sozialarbeiter einstellen. Die Herausforderung ist groß. Ich freue mich, dass die Schulen, die Lehrerinnen und Lehrer und die Schülerinnen und Schüler sich dieser Aufgabe mit so großem Engagement widmen. Das ist ein wichtiger Beitrag für die Integration der neu Zugewanderten.“