Sindschar. . Länger als ein Jahr war die Jesidenhochburg im Norden des Irak von der Terrormiliz besetzt. Jetzt soll der Wiederaufbau beginnen. Ein Ortsbesuch.
Der Bürgermeister von Sindschar empfängt in einem Zelt. Breitbeinig und wuchtig sitzt Mahama Khalil unter dem Porträt des Präsidenten. Das silberne Haar raspelkurz, beeindruckender Schnauzer, im Gürtel einen Revolver. Den rot-weißen Schal hat er lässig um die Schultern geschlungen, die erdbraune Tracht spannt über seinem Bauch. In dieser Kleidung kämpfte der Jeside als junger Mann in den Bergen gegen die Truppen von Saddam Hussein. In der kurzen Friedenszeit trug Khalil einen Anzug, acht Jahre war er Abgeordneter im irakischen Parlament. Jetzt muss er wieder kämpfen. Seine Stadt war über ein Jahr lang besetzt von der Terrormiliz, die sich Islamischer Staat nennt. Heute ist Sindschar frei, aber eine Trümmerwüste.
Kürzlich waren internationale Helfer in der Stadt. „Sie haben mich gefragt, warum ein Bürgermeister einen Revolver braucht. Nachdem ich sie durch die Stadt geführt habe, wollten sie auch einen.“ Er lacht.
Drei Stunden dauert die Fahrt nach Sindschar von Dohuk aus, der nördlichsten Provinzhauptstadt im kurdischen Autonomiegebiet. Der direkte Weg ist nicht passierbar, er führt durch Gebiet, das noch vom IS kontrolliert wird. Also erst Richtung Norden, dann westlich, viele Kilometer an der syrischen Grenze, gewaltigen Ackerflächen und an kleinen Dörfern entlang. Hinter der Grenze der eigentlichen Kurdenregion häufen sich die Checkpoints, bemannt mit kurdischen Peschmerga. Es sind kaum noch Autos und Lastwagen unterwegs.
Im Gebirge leben noch tausende Flüchtlinge
In Rabiaa, einer von Arabern bewohnten Kleinstadt, die ersten Spuren des Krieges, bis hierhin sind die Terroristen gekommen bei ihrer Offensive im vergangenen Sommer. Links und rechts der Straße von den Luftschlägen der US-geführten Koalition in den Boden gestampfte Gebäude, darüber intakte Stromleitungen. Die Kurden haben mit dem Wiederaufbau begonnen.
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Sechzig Kilometer weiter führt die Straße südlich nach Zanune, eine jesidische Kleinstadt, befreit seit Dezember vergangenen Jahres. Der „Islamische Staat“ ist bereits um zigtausende Quadratkilometer geschrumpft. Zanune liegt am Fuß des Sindschar-Gebirges. Die Straße schraubt sich hoch in das raue, zerklüftete, zerknautschte Karstgebirge, in den Tälern sind Terrassen, auf denen die Menschen Gemüse und Tabak anbauen. An den Berghängen Zelte und provisorische Hütten, erst versprengselt, dann in Massen.
Hier leben noch immer Jesiden, die im vergangenen Jahr in die Berge flüchteten, als der IS kam, etwa 10 000 sollen es sein. Hier oben fühlen sie sich sicher. Die Jesiden wurden in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder Opfer von Vertreibungen und Genoziden. Der Berg ist nie erobert worden. Sie nennen ihn „Bruder“. Auf dem Weg hinunter in die Ebene liegen am Wegesrand Kleidungsstücke und ausgebrannte Autowracks, stille Zeugen der panischen Flucht, dem Drama, das sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielte. Dann ist Sindschar erreicht.
Die Stadt wirkt, als sei ein Orkan durch sie gefegt. Wo einmal Gebäude waren, liegen jetzt Berge aus Schutt, verbogenem Metall, zersplittertem Glas. Bizarr verdrehte und umgeknickte Strommasten, Kabelgewirr. Die Häuser, die noch stehen, sind Ruinen, die Fassaden rauchgeschwärzt, viele vernarbt von Schrapnelleinschlägen und Schüssen. Die Bombenangriffe, mit denen die Amerikaner die IS-Kämpfer mürbe machten, bevor die Peschmerga vorrückten, haben eine verheerende Wirkung gehabt. Die Apokalypse, von der die Fanatiker träumen, sie werden sie in Sindschar erlebt haben. „Die Stadt ist zu 100 Prozent zerstört“, sagt der Bürgermeister. Sein Zelt steht neben der Ruine des früheren Rathaus. Über der zerfetzten Fassade hängt eine große kurdische Fahne.
Hunderte jesidische Familien wollten zurück nach Hause
Mahama Khalil nennt die Stadt nie „Sindschar“. Das ist der Name, der der Stadt, der Region, dem Gebirge unter Saddam Hussein gegeben wurde. Ein arabischer Name. Khalil und alle anderen Kurden sagen: „Shingal.“ Die Konfliktlinien der Zukunft sind schon gezeichnet. Wenn der IS irgendwann Geschichte sein sollte, wird der Streit zwischen der irakischen Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Führung in Erbil darüber beginnen, wem Sindschar gehört. Die Beziehung zwischen arabischen Irakern und Kurden ist mittlerweile genau so zertrümmert wie diese Stadt.
Früher lebten in der Stadt 85 000 Menschen, fast alle von ihnen Jesiden. Heute ist Sindschar eine Geisterstadt. Einige wenige Händler verkaufen in dem Bezirk, in dem die Parteibüros und Verwaltungsgebäude waren, Lebensmittel für die Soldaten und die Männer, die die Trümmer beseitigen. „Green Zone“ nennen sie diesen Bezirk, nach der besonders gesicherten Verwaltungszone in Bagdad, er ist umgeben von Betonmauern und Checkpoints. Nur eine Familie lebt dauerhaft hier, der Sekretär des Bürgermeisters hat seine Zweitfrau, ihre beiden kleinen Kinder und seinen Neffen hierher gebracht. „Ich will kein Flüchtling sein“, sagt Dschala Khalia. Die Kinder sind noch klein, zwei und vier Jahre, sie müssen nicht zu Schule gehen. Natürlich sei das kein Leben für die Kleinen, sagt der Sekretär, zuckt mit den Schultern und lacht, aber er fahre ja manchmal am Wochenende nach Zakho, eine Stadt im Norden der Kurdengebiete und kaufe ihnen Geschenke.
In den Ruinen überall Sprengfallen
Als die Peschmerga die Stadt Mitte November einnahmen, drängten hunderte jesidische Familien an die Checkpoints, sie wollten nach Hause. Die Kurden erlaubten es ihnen nicht. In Sindschar gibt es keinen Strom und kein Wasser, es ist zudem lebensgefährlich, weil die Ruinen voller Sprengfallen sind. Selbst in die Spülkästen von Toiletten haben die Terroristen Bomben eingebaut.
Professionelle Hilfe beim Entschärfen der tödlichen Hinterlassenschaft haben die Kurden nicht. „Unsere Männer sind keine Spezialisten, wir versuchen die Sprengfallen trotzdem zu räumen, das ist ein Ausdruck unseres Willens“, sagt der Bürgermeister. Erst kürzlich kamen bei einer Explosion sieben Peschmerga ums Leben. 60 starben beim Sturm auf Sindschar, an dem neben den regulären kurdischen Soldaten auch 7000 jesidische Milizionäre beteiligt waren. Und 300 Kämpfer der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK, trotz der massiven ideologischen Differenzen zwischen den revolutionären Guerilla-Kämpfern und den eher konservativen irakischen Kurden.
Überall in der Stadt sind Spuren der IS-Besatzung. Graffiti an Mauern, das übersprühte Logo des IS, Reste von Transparenten. Die kurdischen Befreier Sindschars fanden in den Ruinen über sechzig Tunnel, in denen sich die IS-Kämpfer vor den Bombenangriffen der Amerikaner versteckt hatten und die sie nutzten, um unbemerkt zwischen den Häusern hin- und herzuwechseln. Sie entdeckten Bombenwerkstätten. Und sie fanden die Massengräber.
Bislang haben die Kurden 19 Massengräber gefunden
Im Süden von Sindschar, etwas außerhalb der Stadt, liegt das Solach Institut. Dahinter, am Stadtrand, eine Grube, vielleicht zehn mal dreißig Meter. Darin liegen Kleiderreste, Haare, Knochen, Kieferfragmente, Schädeldecken. Ein Kinderschuh. Allein hier bargen die Kurden die menschlichen Überreste von 70 Opfern des IS. Es waren wohl vor allem Frauen und Mädchen, die hier verscharrt wurden. „Bislang haben wir 19 Massengräber mit 2000 Opfern entdeckt“, sagt der Bürgermeister. Die Verbrechen des IS sollen irgendwann juristisch aufgeklärt werden, es soll bereits Listen von Tätern geben. Viele der hundertausenden jesidischen und christlichen Flüchtlinge in der Kurdenregion misstrauen aber jetzt generell allen Arabern, sie werfen ihnen vor, mit den Terroristen zusammengearbeitet zu haben. Ein friedliches Zusammenleben in der Zeit nach dem IS ist schwer vorstellbar.
In der Ferne ist sporadisches Gewehrfeuer zu hören. Die Front liegt zwei Kilometer südlich. Sie hält. Vor zehn Tagen versuchten die IS-Kämpfer noch eine größere Offensive, sie griffen bei Makhmour, Khazer, Zumar und auch hier in Sindschar an, als es neblig war. „Wir haben sie zurückgeschlagen und ihnen heftige Verluste beigebracht. Wir kennen ihre Taktik jetzt“, berichtet Khamal Mohammed Omar, der befehlshabende General an diesem Abschnitt. Natürlich, sagt er, helfen auch die deutschen Waffen, besonders die Milanraketen. „Wir brauchen mehr davon.“
Kurden haben eine Lebensader des Kalifats durchschnitten
Für den IS war der Fall von Sindschar eine schwere Niederlage. Nicht nur wegen des Symbolcharakters des Stadt. Bei Sindschar verläuft der Highway 47. Diese Straße verbindet die offizielle IS-Hauptstadt Rakka in Syrien mit der irakischen Millionen-Metropole Mossul, die der IS im Juni vergangenen Jahres nahezu kampflos eroberte. Jetzt kontrollieren die Kurden die Straße. Eine wichtiges Lebensader des Terror-Kalifats ist zerschnitten. Im Irak wird die Lage für den IS zunehmend schwieriger, gerade erst hat er auch Ramadi in der Mitte des Landes verloren. Das nächste Ziel der irakischen Armee wird Mossul sein, wo die Terrormiliz offenbar immer weniger in der Lage ist, die öffentliche Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Aus der Stadt kommen immer häufiger Berichte von erfolgreichen Angriffen auf IS-Kommandeure. Das Kalifat zerbröselt langsam.
Hilfe für den Aufbau von Sindschar ist allerdings noch nicht angekommen. „Wir haben den Willen, die Stadt wiederaufzubauen“, sagt der Bürgermeister, „aber ich bin von der internationalen Gemeinschaft enttäuscht.“ Er empfängt viele Gäste in seinem Zelt. Internationale Helfer sind nur wenige darunter. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat vor wenigen Wochen bei einem Besuch in der Kurdenhauptstadt Erbil Hilfe für Sindschar zugesagt. Bislang ohne konkrete Ergebnisse. Der Bürgermeister packt den Besucher am Arm. „Ihr müsst der Welt erzählen, wie es hier ist. Ihr müsst uns helfen.“