An Rhein und Ruhr. .
Anja kriegt sie einfach alle zum Singen: Alte und Junge, Talentierte und Untalentierte, Mitbrummer und klassische Nur-unter-der-Dusche-Trällerer. Sie alle stimmen an diesem Abend so unterschiedliche Lieder an wie „Mrs. Robinson“ von Simon & Garfunkel, eine Volksweise über die Heide oder Leonard Bernsteins Musical-Klassiker „I feel pretty“ aus der „West Side Story“. „Ist ein bisschen hoch“, warnt Anja Lerch ihre Mitsänger, „aber mein Gott, das wird schon“. Und es wird, natürlich wird es. Es wird toll. Erstaunlich, wie 300 Menschen , viele sogar ohne das Lied zu kennen, nur mithilfe des Textes, der vorne an die Wand projiziert wird, und einer mitreißenden „Chorleiterin“ am Klavier so melodisch zueinander finden.
Ohne Verpflichtung und inlockerer Atmosphäre
Dabei ist Anja Lerch immer nur Chorleiterin für einen Abend, das Repertoire wechselt ständig und ihr „Chor“ genauso; es sind (neben eingeschworenen Stammgästen) immer neue singfreudige Ruhrgebietler und Niederrheiner, die in Duisburg, Mülheim, Moers, Rheinberg und andernorts zu ihren zwanglosen Singabenden pilgern.
Begonnen hat die Duisburger Sängerin mit dieser Reihe vor neun Jahren, „weil mir aufgefallen war, dass die Menschen immer weniger miteinander singen. Und ich wollte einen Abend mit allen Stilrichtungen anbieten, weil es in jeder Stilrichtung gute Musik gibt.“ Elf Leute kamen damals zur Premiere. Doch die Sache sprach sich ruckzuck herum, schnell wurden es mehr. Mittlerweile kommen Hunderte, wenn Anja Lerchs Singabend irgendwo auf dem Veranstaltungsplan steht. Das dürfte nicht nur an der neu erweckten Lust am Gesang liegen, sondern auch an der Frau, die Takt und Ton vorgibt.
Anja Lerch ist eine kleine, schmale Person, aber wenn die 47-Jährige vor Publikum steht, ist sie eine ganz Große. Sie hat eine Menge Herzenswärme, Temperament, ordentlich Ruhrpottcharme und eine grandiose Stimme.
Diese Stimme mit den Rock- und Bluesanleihen hat sie in den vergangenen Jahren in diversen Bandprojekten, im Duo und solo eingesetzt, 2013 war sie sogar bei „The Voice of Germany“ zu erleben, was „mir noch mal einen ordentlichen Schub gegeben hat.“
Doch seit sechs Jahren sind die Singabende das Hauptmetier der Absolventin der Arnheimer Musikhochschule. Was womöglich mit einer Begebenheit in ihrer Kindheit zu tun hat, die Anna Lerch als „Schlüsselmoment“ bezeichnet. Als Achtjährige hörte sie die Titelmelodie von „Black Beauty“, einer Serie um ein schwarzes Pferd, die in den 70er-Jahren im Nachmittagsprogramm lief. Das Lied rührte sie zu Tränen. Sie nahm es auf, stellte sich auf den Balkon und spielte es so laut ab, dass es den halben Wohnblock beschallte. „Ich habe gedacht, dass alle Menschen genauso glücklich sein müssen wie ich, wenn sie das hören. Und ich wollte sie an diesem Glück teilhaben lassen.“
Wenn man so will, kann man ihre Singabende als ziemlich konsequente Fortsetzung dieses Anliegens begreifen. Viele erzählen ihr nach zwei Stunden gemeinsamen Singens, dass sie wirklich glücklich nach Hause gegangen seien - und dass dieses Gefühl auch noch einige Tage angehalten habe.
Ein Frau komme regelmäßig mit ihrem Vater, der an Alzheimer leidet und oft depressiv sei, zum Singen, erzählt Lerch: „Der Abend ist für ihn das Highlight des Monats.“
„Black Beauty“ steht übrigens nicht auf dem musikalischen Programm, dafür aber viele Hits aus den vergangenen sechs Jahrzehnten. Nicht nur Rock und Pop gehören dazu, auch Volkslieder, deutsche Schlager oder Klassik. „Neulich haben wir sogar ,Nessun dorma’ von Puccini gesungen“, so Lerch, die jeden Monat die „Hitliste“ neu zusammenstellt.
Songwünsche, aberauch Lieder zur Zeit
Dort finden sich dann Songs, die ihr am Herzen liegen, die zur Zeit passen, aber auch viele Wünsche, die ihr Besucher per Internet geschickt haben. Daneben hat sie - selbst Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn im Alter zwischen 12 und 23 Jahren – spezielle Singpartys für Kinder entwickelt, Heimatabende ausschließlich mit Volksliedern, oder Mottoabende.
Spätestens nach dem fünften Lied hält es die meisten nicht mehr auf den Stühlen. Dann wird geklatscht, geschunkelt und getanzt. Manche sitzen auch nur dabei und hören lächelnd zu. Man kann an so einem Abend Spaß am Singen haben – oder ganz einfach: die pure Freude am Leben.