Berlin. Viele Ärzte und Pfleger greifen zu Alkohol und Tabletten. Wie Sie als Patient süchtige Helfer erkennen – und was dann als Erstes zu tun ist.
- Unter Ärzten und Pflegepersonal sind Abhängigkeiten besonders häufig
- Patienten können auf bestimmte Warnsignale achten
- Eine Expertin gibt Tipps, was dann die ersten Schritte sind
Knapp jeder zehnte Arzt in Deutschland ist süchtig. Damit sind Suchterkrankungen unter Medizinern dreimal häufiger als im Rest der Bevölkerung. Noch heftiger sieht es unter Krankenschwestern und Krankenpflegern aus: 15 Prozent von ihnen sind abhängig von Alkohol, Tabletten oder anderen Suchtmitteln. Das hat Gründe – und für die Betroffenen harte Konsequenzen, wenn sie auffliegen.
Es sind Schlagzeilen wie diese, die einem Schauer den Rücken runterjagen: Im August 2022 operiert ein Chirurg eine Notfallpatientin: Blinddarmentzündung. Er schwankte, werkelte mit dem Endoskop ziellos im Bauch der Patientin herum, verletzte sogar dabei noch andere Organe. Weil er nicht weiter kam, wollte er den Bauch aufschneiden. Da reichte es dem OP-Team. Es schlug beim Chef Alarm. Der Chirurg hatte 2,29 Promille im Blut.
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Alkohol und Tabletten: Ärzte und Pfleger gefährdeter als andere
In einem anderen Beispiel verschwanden in einem Krankenhaus immer wieder Beruhigungsmittel aus der Stationsapotheke. Hingegen blieben Medikamente, die die Patienten eigentlich erhalten sollten, häufig übrig. Ein Patient erlitt dadurch eine lebensgefährliche Thrombose. Die Erklärung: Eine medikamentenabhängige Krankenschwester bediente sich, vernachlässigte aber im Suchtnebel die Pillenausgabe an die Patienten.

Ärzte und Pflegekräfte sind überdurchschnittlich häufig süchtig. Vor allem von Alkohol, aber auch Beruhigungsmitteln, an die sie ja besonders leicht herankommen. „Vorteil“ der Medikamente: Sie verursachen keine Fahne. Häme ist fehl am Platz. „Die sollten es aber nun wirklich besser wissen“, verkennt die Brutalität einer Suchterkrankung. Jeder Süchtige meint, auch im Rausch noch funktionieren zu können. Das gilt für Autofahrer wie für Chirurgen. Dieser Selbstbetrug gehört zum Krankheitsbild. Wie viele tausend Menschen sind schon durch Betrunkene am Steuer unschuldig gestorben.
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Warum Ärzte und Pfleger so oft in die Sucht rutschen, ist mehr als offensichtlich: Der Job ist wohl einer der härtesten überhaupt. Sie erledigen endlose Schichtdienste (manche Krankenhausärzte müssen 72 Stunden durcharbeiten, inklusive Operationen), haben einen enormen Arbeitsdruck mit viel Verantwortung und müssen gleichzeitig noch viel Schmerz und Trauer sehen und ertragen. Da liegt der Griff zur Flasche oder Pillenpackung zum Schnell-Runterkommen einfach zu nahe.
Fliegt ein Arzt auf, wird es sehr schnell sehr eng für ihn. Krankenhausärzte werden in der Regel sofort vom Dienst suspendiert, um Patienten nicht zu gefährden. Haben sie Patienten geschadet, folgt rechtlicher Ärger, Strafzahlungen und schlimmstenfalls der Entzug der Approbation – also der Genehmigung, als Arzt tätig sein zu dürfen. Und das auf Lebenszeit.
Hausärzte: Warum nur wenige ihre Sucht zugeben
Nicht viel besser ergeht es niedergelassenen Ärzten. Das Fachportal „medscape“ berichtet von einer Hausärztin, die so stark alkoholisiert war, dass ihre Helferinnen den Amtsarzt alarmierten. Der machte die Praxis sofort für drei Wochen dicht. Das bedeutet für niedergelassene Ärzte auch einen hundertprozentigen Verdienstausfall. Allein dieses Schreckgespenst hält viele Ärzte davon ab, sich zu ihrer Sucht zu bekennen und Hilfe zu suchen. Lieber machen sie weiter, in der Hoffnung, nicht aufzufallen. Studien sagen, dass Ärzte ungefähr vier bis sechs Jahre lang abhängig sind, bis sie sich in Behandlung begeben.

Eben weil das Problem so weit verbreitet ist, haben viele Ärztekammern mittlerweile extra Programme für süchtige Kollegen herausgebracht. In Berlin beispielsweise gibt es ein Gremium aus einem „Paten-Arzt“, einem Juristen und einem Vertreter der Ärztekammer, vor denen der Betroffene erscheinen muss. Dort wird dann das weitere Vorgehen besprochen und der Betroffene zu einer Therapie verpflichtet. Hält er sich nicht daran, ist die Approbation weg.
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Der Druck zeigt aber auch Wirkung: Die Behandlung von süchtigen Ärzten ist bei jedem Zweiten erfolgreich. Normalerweise schafft es nur jeder Fünfte bis Zehnte, sich von der Sucht zu befreien, sagen Studien.
Süchtiger Arzt: Das können Patienten in Klinik und Praxis tun
Als Patient ist man dem Ganzen leider ziemlich ausgeliefert. Allerdings nicht, wenn Sie richtig reagieren. Stellen Sie fest, Ihr Arzt hat eine Fahne oder benimmt sich „komisch“, ist eines vor allem wichtig: Trauen Sie Ihrem Instinkt und beruhigen Sie sich nicht selbst mit „kann ja nicht sein“ oder „wird schon gut gehen.“ Sie wissen jetzt, wie groß das Problem in der Ärzteschaft ist. Denken Sie daran: Es geht um Ihre Gesundheit und die haben Sie nur einmal.
Besonders brenzlig ist es, wenn bei Ihnen eine OP oder ein sonstiger Eingriff geplant ist und der Arzt benimmt sich auffällig. Machen Sie sich gerade und brechen Sie die Behandlung ab. Sie dürfen das, auch ohne Nennung von Gründen. Sind Sie im Krankenhaus, verlangen Sie einen anderen Arzt. Verschreibt der „verdächtige“ Arzt Medikamente, lassen Sie die Verordnung noch einmal gegenchecken. Entweder von einem anderen Arzt oder in der Apotheke.
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Dokumentieren Sie die verdächtigen Anzeichen. Das müssen keine „Beweise“ sein, sondern lediglich das, was Sie zu dem Verdacht bringt. Eine Fahne ist natürlich schon ziemlich klar, aber auch eine verwaschene Sprache, zitternde Hände oder Gangunsicherheit wären solche Dinge. Genauso zählt natürlich ein unangemessenes Verhalten dazu.
Arzt unter Suchtverdacht: Mut zur Meldung
Melden Sie den Vorfall. Bitte kehren Sie das nicht unter den Teppich. Denken Sie daran: Sollten Sie richtig liegen, steht auch das Wohl vieler anderer Patienten auf dem Spiel. Im Krankenhaus können Sie sich dazu entweder an den Stationsarzt oder das Pflegepersonal wenden. Wobei diese häufig schon ohnehin Bescheid wissen und ihren Kollegen oder ihre Kollegin eventuell decken werden. Deshalb ist es besser, den Patienten-Ombudsmann der Klinik zu kontaktieren oder Sie wenden sich direkt an die Klinikleitung. Haben Sie bitte den Mut dazu!
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Spielt sich das Ganze in einer Arztpraxis ab, informieren Sie die Landesärztekammer. Diese wird die richtigen Schritte unternehmen. Sollten Sie befürchten, dabei in Zeiten des herrschenden Arztmangels beispielsweise Ihren Hausarzt zu verlieren: Das geht auch anonym.
Sollte eine Situation, etwa bei einem Notfall, völlig außer Kontrolle geraten, rufen Sie die Polizei. Ein slowenischer Notarzt, der einen Patienten zur Verlegung nach München begleitete, stank stark nach Alkohol. Während der Fahrt kam es zu einem medizinischen Notfall. Der Arzt verabreichte nicht nur die falschen Medikamente, sondern steckte den Beatmungsschlauch statt in die Luft- in die Speiseröhre. Der Patient schaffte es noch in das Grenzstädtchen Villach, dort starb er. Die dortigen Rettungskräfte alarmierten die Polizei. Der Arzt hatte 2,2 Promille im Blut.
Sie haben Fragen zum Thema Sucht oder sind selbst betroffen? Schreiben Sie uns an sucht(@)funkemedien.de.
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Zur Person
- Gaby Guzek ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
- Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach unter gaby-guzek.com und in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
- Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.
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