Berlin. Noa aus Lübeck lebt mit einer dissoziativen Identitätsstörung. Wie es sich anfühlt, wenn mehrere Personen in einem Körper leben.
Noa lebt in Lübeck, studiert an der Uni Psychologie. Die 24-Jährige trinkt morgens Schoko-Hafermilch-Kaffee, reist gern und liebt Wildblumen. Doch Noa ist nicht nur eine Person, sie ist viele: Flora, Mai, Charlie, Jakob, Mika, Maja, Lizzy, Ed und einige andere Identitäten teilen sich zusammen mit Noa einen Körper.
Noa hat eine dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS – ein Krankheitsbild, das für viele Menschen nur schwer greifbar ist. Dabei weist Schätzungen zufolge rund ein Prozent der Bevölkerung dissoziative Identitätsstrukturen auf. Allein in Deutschland geht man von 800.000 Betroffenen aus. Wie sieht der Alltag mit einer solchen Störung aus? Wie schaffen es Betroffene wie Noa, die verschiedenen Identitäten zu koordinieren? Und wie kommt es überhaupt dazu, dass mehrere Identitäten in einem Körper leben?
Dissoziative Störung durch Traumata in Kindheit
„Der Grund, warum sich bei einem Menschen verschiedene Teilidentitäten ausbilden, liegt in schweren Traumata in der frühen Kindheit“, erklärt die Hamburger Psychotherapeutin Dr. Rosalie Weigand. Diese Traumata, oft verursacht durch emotionale, sexualisierte, organisierte und/oder ritualisierte Gewalt, gehen häufig von nahen Bezugspersonen aus. Diese Gewalterfahrungen sind zu viel für die kindliche Psyche, die in diesem Alter noch nicht vollständig entwickelt ist. Sie spaltet sich als Überlebensmechanismus in verschiedene Identitäten auf.
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„Die Gewalterfahrung wird sozusagen aufgeteilt‘“, erläutert Weigand. Einige Identitäten speichern die traumatischen Erlebnisse, während andere nichts davon wissen. Die verschiedenen Anteile können sich auch in anderen Bereichen stark unterscheiden: Manche sind erwachsen, andere bleiben in einer kindlichen Entwicklungsphase und sprechen und handeln deswegen auch wie Kinder. Sie haben unterschiedliche Namen, Geschlechter, Fähigkeiten, Aufgaben, Vorlieben oder Hobbys. Auch Mimik, Gestik und Stimmlage unterscheiden sich häufig von Person zu Person.
Dissoziation: Wenn Denken, Fühlen und Handeln auseinanderfallen
„Die Teilidentitäten übernehmen abwechselnd die Kontrolle über Verhalten, Gedanken und Handlungen“, so die Psychotherapeutin. Diese Wechsel können mehrmals pro Tag erfolgen. Betroffene haben darauf oft keinen oder nur sehr geringen Einfluss. Das mache es für sie sehr schwer, den Alltag zu planen, einer Arbeit oder einem Studium nachzugehen oder Freundschafts- und Liebesbeziehungen zu führen, erklärt die Expertin. Zudem entstehen oft Gedächtnislücken, wenn eine Identität „vorne“ war, ohne dass die anderen etwas davon mitbekommen. „Amnesien, also das teilweise oder vollständige Vergessen von Ereignissen, sind typisch für Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung“, sagt Weigand.
Dennoch leben viele Betroffene lange unbemerkt mit der Störung. Die meisten bekommen erst mit rund 30 Jahren eine Diagnose. „Das liegt auch daran, dass viele Fachleute die Existenz der DIS bis heute bezweifeln, obwohl sie im internationalen ICD-Katalog für medizinische Diagnosen gelistet und durch aktuelle Forschung als eigenständige diagnostische Kategorie bestätigt ist“, so Weigand.
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Noa ist 21, als sie erfährt, dass sie mit einer DIS lebt. „Ich wusste bis dahin nichts von anderen Personen oder unserem Traumahintergrund“, erzählt sie. Gleichzeitig bemerkt Noa schon damals, dass sie sehr viel dissoziiert. In der Psychologie bezeichnet eine Dissoziation das Trennen beziehungsweise Auseinanderfallen von psychischen Funktionen wie Denken, Handeln und Fühlen. Noa kann sich deshalb oft nicht bewegen oder sprechen und bemerkt auch, dass sie immer mehr Gedächtnislücken im Alltag hat.
„Wenn ihr da seid, könnt ihr euch zeigen“
Als ihre Therapeutin, bei der sie bereits wegen Depressionen in Behandlung ist, eine dissoziative Störung vermutet, blockt Noa zunächst ab: „Ich fand den Gedanken absurd. Ich dachte: Das hätte ich doch gemerkt, wenn da andere Menschen in meinem Körper sind und Kindheitstrauma hab ich eh nicht.“ Sie lässt sich trotzdem auf einen Klinikaufenthalt ein. „Ich habe mich in der Klinik dann an einem Abend an den Schreibtisch gesetzt und in ein Notizbuch geschrieben: ‚Hier ist es sicher, wenn ihr da seid, könnt ihr euch zeigen.‘ Dann war ich plötzlich weg und als ich zurückkam, waren mehrere Seiten vollgeschrieben.“
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Durch diese erste Kommunikation mit anderen Identitäten erfährt Noa von den Traumata ihrer Kindheit, auf die sie aber nicht näher eingehen möchte. „Es war ein Schock“, erinnert sie sich. „Aber zu realisieren, wie viel Schmerz hinter meiner DIS steht, war viel heftiger, als zu realisieren, dass wir viele sind. Dass meine Kindheit scheinbar nicht so glücklich war, wie ich lange dachte, damit bin ich anfangs gar nicht klargekommen.“
Wie in einer WG: Alltagsorganisation mit DIS
Seit ihrer Diagnose vor drei Jahren hat Noas System (so bezeichnen Betroffene die Gesamtheit ihrer Identitäten) mit therapeutischer Unterstützung gelernt, das Leben mit DIS neu zu organisieren. „Da nicht alle Innenpersonen miteinander kommunizieren können, hilft uns beispielsweise ein Tagesplan auf dem Handy dabei, Dinge wie Duschen, Zähne putzen, Mahlzeiten und Medikamenteneinnahme nicht zu vergessen. Wenn eine Person einen Punkt erledigt hat, hakt sie das ab“, erklärt Noa. „Das klappt teilweise ganz gut, teilweise vergessen Personen auch, Dinge abzuhaken. Aber wir werden immer besser.“
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In der Therapie geht es nicht unbedingt darum, die Teilidentitäten wieder zu vereinen, denn das ist nicht immer möglich und auch nicht immer erwünscht. Laut Rosalie Weigand liegt der Fokus der Therapie vor allem darauf, Betroffene bei der Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen zu unterstützen und das Zusammenleben innerhalb des Systems zu verbessern. Denn je weniger die Innenpersonen voneinander wissen, desto größer sei auch das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins von Betroffenen. „Sehr vereinfacht kann man sich das vorstellen wie in einer WG – alle Bewohner müssen sich innerhalb gewisser Rahmenbedingungen bewegen, sich an Regeln halten und gut miteinander kommunizieren, damit das Zusammenleben klappt“, erklärt Weigand.
DIS: Balance zwischen Angst und Alltag
Noas System hat durch die Therapie und den Kontakt zu anderen Betroffenen gelernt, besser mit der DIS umzugehen. Trotzdem fühlt es sich für sie meist anstrengend an, damit zu leben: „Ich würde mich am liebsten gar nicht mit dem Trauma beschäftigen, auch nicht mit den Anteilen, die die Erinnerungen daran tragen. Ich weiß, dass ich regelmäßig in den Kontakt mit den anderen gehen muss, auch mit denen, deren Geschichte mir Angst macht. Damit nicht irgendwann alles auf einmal an die Oberfläche kommt und unser Leben komplett aus der Bahn wirft.“
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Über ihr Leben mit der Dissoziativen Identitätsstörung hat Noa unter dem Pseudonym „Noa Amanjosch“ ein Buch geschrieben und selbst illustriert. Es heißt „Oktopusgeschichten“ und ist beim Ulli Verlag erschienen. Auf ihrem Social-Media-Media-Account klärt sie unter dem Namen „Noa & Co“ über das Krankheitsbild der DIS auf.
Hilfe für Betroffene von sexualisierter Gewalt
Die bundesweite, kostenfreie und anonyme telefonische Anlaufstelle „berta“ unter der Telefonnummer 0800 3050750 richtet sich an Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt, sowie an Angehörige, Helfende und Fachkräfte.
Das kostenfreie und anonyme Hilfetelefon sexueller Missbrauch ist unter der Nummer 0800 22 55 530 zu erreichen. Es ist die bundesweite Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten.
Der Verein Vielfalt e.V. bietet Beratung, Therapieinformationen, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung für Betroffene mit Dissoziativer Identitätsstörung, Interessierte und Fachleute an.