Berlin. Den 6. Sinn gibt es wirklich – und Sie können ihn täglich stärken. Eine Expertin gibt Tipps für den Weg zur „Superkraft“ bis ins hohe Alter.
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten: unsere fünf klassischen Sinne, die uns durchs Leben lotsen, kennen die Allermeisten. Doch dann gibt es da noch etwas, das Fachleute als unseren geheimnisvollen „sechsten Sinn“ bezeichnen. Der sperrige Fachbegriff dafür: Propriozeption. Viel griffiger dagegen sind die Vorteile im Alltag, die der faszinierende Sinn Jüngeren wie Älteren bringt: ein sicheres Gleichgewicht, bessere Koordination, weniger Stolpern und Umknicken – um nur einige zu nennen.
Was genau hat es mit unserem „sechsten Sinn“ auf sich, wie lässt er sich schärfen und warum lohnt sich die Mühe vom Kindes- bis ins Rentenalter? Das klären wir mit Sportwissenschaftlerin Dr. Christiane Wilke. Sie lehrt und forscht am Institut für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) Köln.
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Propriozeption: Was steckt hinter dem „sechsten Sinn“ des Körpers?
Unter Propriozeption verstehen Fachleute die unbewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers nach Haltung, Stellung, Spannung der Muskulatur und Bewegung und damit indirekt auch nach dessen Lage im Raum. Sie wird umgangssprachlich auch als der „sechste Sinn“ des Menschen bezeichnet.
Das Wort leitet sich ab aus den griechischen Wörtern „proprio“ für eigen und „zeption“ für Wahrnehmung. Eigenwahrnehmung ist hierbei nicht psychologisch gemeint, sondern körperlich, im Sinne von Tiefensensibilität. „Also das, was ich in mir drin spüre“, erklärt Christiane Wilke. Die Tiefenwahrnehmung setzt sich aus drei Sinnen zusammen:
- dem Kraftsinn,
- dem Stellungssinn und
- dem Bewegungssinn.
Wilke erklärt das an einem Beispiel: „Wenn ich eine 1,5 Kilogramm schwere Wasserflasche aufhebe, dann weiß ich in mir drin, ohne dass ich groß darüber nachdenken muss: Wie viel Muskelkraft benötigt der Körper dafür, wie sehr muss ich mich dafür bewegen und in welchen Stellungen befinden sich die Gelenke?“ Die Tiefensensibilität trage vereinfacht gesagt dazu bei, gut koordinierte Bewegungen durchzuführen und unterstützt damit auch den Gleichgewichtssinn.
Jetzt handeln? Alarmsignale beim „sechsten Sinn“ erkennen
Ob man selbst bei der Propriozeption gut aufgestellt ist oder vielleicht Nachholbedarf hat, lässt sich gut im Alltag beobachten. „Wenn man zum Beispiel eine Tasse aus dem Schrank nimmt oder die Treppe hochgeht“, sagt Wilke. Habe man das Gefühl, das klappt und läuft rund, sei das für den Alltag ausreichend. Aufmerksam werden solle man laut der Expertin aber, wenn man sich zum Beispiel
- bei Gewichten häufiger verschätzt,
- einem das Treppensteigen oder die Bewegung im Alltag unrhythmisch vorkommt oder
- man im Alltag häufiger mal das Gleichgewicht verliert.
Ein guter Test ist laut Wilke zum Beispiel, sich auf ein Bein zu stellen und ehrlich wahrzunehmen, wie gut das gelingt.
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Die Beschäftigung mit „sechsten Sinn“ wird umso wichtiger, je länger man die „Halbzeit des Lebens“ hinter sich gelassen hat. Der Grund: Die Tiefenwahrnehmung lässt mit dem Alter nach. „Das ist nicht anders, als beim Sehen, Hören, dem Gleichgewichtssinn oder anderen Sinneswahrnehmungen auch“, sagt Christiane Wilke.
Schlechte Körperwahrnehmung: Wichtiger Rat an Eltern
Und dann gibt es jene, die einen besonders gut ausgeprägten „sechsten Sinn“ haben: Leute, die sich seit jeher im Alltag viel bewegen, etwa Hobby- und vor allem Leistungssportler. Turner etwa haben durch intensives Training ein besonders gutes Körpergefühl, in Ruhe wie in Bewegung. Sportwissenschaftler sprechen hier von Kinästhetik. Aber kommt es nur aufs Training an? Nein, sagt Wilke. Veranlagung spiele eine Rolle, aber auch Sozialisation: „Kinder, die sich von klein auf viel bewegt haben, sind später auch ganz anders in der Lage, Bewegungsaufgaben auszuführen“, erklärt sie.
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Eltern könnten ihren Kindern Gutes tun, indem sie sie von Anfang an regelmäßig mit Sport und Bewegung in Kontakt bringen. „Und da ist es egal, um welche Sportart es sich handelt“, sagt Wilke. Jeder Mensch sammle einen Speicher an „Bewegungserfahrung“, der ihm auch im Erwachsenenleben bis hinein ins hohe Alter zugutekäme. Selbst nach längerer Sportpause helfe das beim Wiedereinstieg. Studien zufolge haben hierzulande immer mehr Kinder Übergewicht und/oder sind motorisch schlecht ausgebildet. Beidem lasse sich durch Sport vorbeugen, betont Wilke.
Tiefenwahrnehmung stärken: Lässt sich Propriozeption trainieren?
Unter der Lupe betrachtet, ist Propriozeption nichts anderes als eine pausenlose Abfrage zwischen Gehirn, Muskeln, Gliedmaßen und Körper – mit der Frage, wo man selbst eigentlich gerade ist und was man in diesem Moment eigentlich tut. Dass das reibungslos klappt, dafür sorgt sein hochkomplexes sensorisches System, das sich speziell durch sämtliche Muskeln und Sehnen im Körper zieht und entsprechende Reizsignale ans Gehirn sendet.
Warum also die Tiefenwahrnehmung nicht gezielt fleißig trainieren? Ganz so einfach ist das nicht, gibt Wilke zu bedenken. Sportarten wie Yoga, Pilates oder Qigong würden zwar dem Alterungsprozess gezielter als andere entgegenwirken. „Sie werden mit sehr viel Körper- und Bewegungsbewusstsein ausgeführt“, sagt Wilke. Ähnliche Effekte ließen sich durch morgendliche Dehn- und Entspannungsübungen erzielen.
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Die Tiefenwahrnehmung zielgenau zu trainieren, sei dagegen nicht so einfach. „Und für Patienten ist es oftmals wirklich langweilig“, gibt Wilke zu. Zum Einsatz kommen die simplen und kleinteiligen Übungen etwa in der Therapie nach einer OP, Verletzung oder Erkrankung. Dann sind die entsprechenden Rezeptoren im Körper oftmals zerstört oder eingeschlafen und es ist Wiederaufbau angesagt. „Aber diese Übungen in den Alltag einzubauen, das würden die meisten Leute nicht machen“, sagt Wilke.
Vielmehr empfiehlt die Sportwissenschaftlerin, auf Sportarten zu setzen, die stark aufs Körperbewusstsein abzielen, aber trotzdem Spaß machen. Gut sei auch, in eine ganz neue Sportart reinzuschnuppern und dabei neue Techniken und Bewegungsmuster zu erlernen. „Genau das trägt zur Tiefensensibilität bei“, sagt Wilke.
Umknicken und Stürze vorbeugen: Gute Übungen im Alter
Fachleute empfehlen insbesondere älteren Menschen, die Tiefenwahrnehmung zu stärken. Dadurch lässt sich das Risiko für viele typische Gefahren im Alter senken. Dazu zählen
- häufiges Stolpern oder Ausrutschen,
- Umknicken mit dem Sprunggelenk im Wald,
- ernsthafte Stürze,
- Rückenschmerzen durch häufige Bewegungen auf unebenem Untergrund,
- sich beim Essen auf die Zunge beißen oder einfach
- häufiges Fallenlassen von Gegenständen im Alltag.
Auch das sichere Tragen von Dingen oder einfach mal einen Sessel zu verrücken, fällt Älteren oft schwerer. Um das Nachlassen der Tiefenwahrnehmung im Alter zu bremsen, empfiehlt Christiane Wilke folgende Aktivitäten:
- Radfahren für einen besseren Gleichgewichtssinn, egal ob Fahrrad oder E-Bike,
- Kurse oder Reha-Sportgruppen suchen, die zur Körperhaltung, Koordination und Bewegung beitragen,
- Funktionelles Training, bei dem Körpergewicht und -position für Übungen genutzt werden,
- Tanzkurse, die in der Gruppe auch das soziale Miteinander fördern sowie
- ein Musikinstrument erlernen, was präzise Bewegungen erfordert und im Kopf kognitive Prozesse fördert.
Die Propriozeption ist das Navigationssystem für den eigenen Körper. Wollen Sie auf Kurs bleiben?
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