Berlin. Eine neue Studie zeigt: Neandertaler und Homo sapiens teilten ihren Lebensraum und ihre Gene – und das an einem überraschenden Ort.

Der Neandertaler und der moderne Mensch haben nicht nur nebeneinander gelebt, sondern sich auch genetisch vermischt. Das zeigt nun einmal mehr eine neue Studie unter der Leitung von Saman Guran von der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit Forschenden der Stiftung Neanderthal Museum im iranischen Kermanshah und der Universität Aarhus in Dänemark. Die Ergebnisse, die kürzlich in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurden, identifizieren einen konkreten Ort, an dem sich die beiden Menschenarten gekreuzt haben könnten, an dem sie also Sex hatten.

Neandertaler und moderner Mensch hatten sexuellen Kontakt

Bereits 1998 vermuteten Forscher eine genetische Vermischung zwischen dem Neandertaler (Homo neanderthalensis) und dem anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens), als im portugiesischen Lagar Velho ein 24.500 Jahre altes Kindergrab entdeckt wurde. Die Skelettmerkmale des Kindes wiesen sowohl Merkmale des modernen Menschen als auch des Neandertalers auf, was darauf hindeutete, dass es sich um einen „Mischling“ handeln könnte. Eine genaue Zuordnung war jedoch schwierig, da die Analyse von Kinderskeletten oft unsicher ist.

Im Jahr 2006 gelang einer Forschergruppe der Washington University in St. Louis der Beweis: Bei der Untersuchung von 30.000 Jahre alten Muierii-Fossilien aus dem Paläolithikum entdeckten sie eine Kombination charakteristischer Merkmale beider Arten. Während einige Knochenformen auf den Homo sapiens hindeuteten, etwa ein kleines Kinn und eine schmale Nasenöffnung, fanden sich auch typische Neandertaler-Merkmale wie eine fliehende Stirn und ausgeprägte Augenwülste. Die Forscher schlossen daraus, dass sich frühe moderne Europäer und Neandertaler gekreuzt haben könnten und dass es nur geringe Verhaltensunterschiede zwischen den Gruppen gab. Wo die Vermischung stattfand, war bisher jedoch unklar.

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Neandertaler und Homo sapiens: Zāgros-Gebirge als mögliche Kontaktzone

Das könnte sich mit den neuen Erkenntnissen des internationalen Forscherteams ändern. In ihrer Arbeit beschreiben die Forschenden um Saman Guran, wie sie mit Hilfe von ökologischen Nischenmodellen und geografischen Informationssystemen mögliche Aufenthaltsorte der beiden Menschenarten in Südosteuropa und Südwestasien rekonstruiert haben.

Der Fokus lag dabei auf dem Marine Isotope Stadium (MIS) 5, einer Periode vor etwa 130.000 bis 80.000 Jahren, die durch starke Klimaschwankungen gekennzeichnet war. Anhand von Klima- und Umweltdaten ermittelten die Wissenschaftler mögliche Verbreitungsgebiete von Neandertalern und modernen Menschen und identifizierten Überlappungszonen, in denen es zu Begegnungen gekommen sein könnte.

Das Zāgros-Gebirge wurde als die wahrscheinlichste Kontaktzone (rot) zwischen dem Neandertaler (blau) und dem Homo sapiens (grün) identifiziert.
Das Zāgros-Gebirge wurde als die wahrscheinlichste Kontaktzone (rot) zwischen dem Neandertaler (blau) und dem Homo sapiens (grün) identifiziert. © Guran et al., Scientific Reports 2024 | Guran et al., Scientific Reports 2024

Die Analyse führte zu einer bemerkenswerten Entdeckung: Das Zāgros-Gebirge, das sich über rund 1.500 Kilometer von der türkischen Provinz Kurdistan an der Grenze zum Irak bis zur Straße von Hormus erstreckt, wurde als eine der wahrscheinlichsten Kontaktzonen identifiziert. Das Gebirge verläuft parallel zum Tigris und zum Persischen Golf und bietet eine abwechslungsreiche Landschaft mit günstigen Lebensbedingungen, die das Zusammentreffen der beiden Menschenarten begünstigt haben könnten.

Kreuzung zwischen Menschenarten sehr wahrscheinlich

Aus früheren Untersuchungen war bereits bekannt, dass die Region des Zāgros-Gebirges mit ihrer hohen Artenvielfalt, dem abwechslungsreichen Gelände und dem milden Klima nahezu ideale Lebensbedingungen für den Neandertaler bot. Zudem lag das Gebirge auf der Wanderroute des Homo sapiens von Afrika nach Asien, was es zu einem wahrscheinlichen Treffpunkt beider Menschenarten macht. „Die Möglichkeit, dass verschiedene Gruppen von Homininen im Zagros-Gebirge lebten, wird durch die geografischen Bedingungen dieser Region begründet“, so die Forscher in ihrer Studie.

Fossilienfunde aus der Region stützen diese Theorie: In der Shanidar-Höhle im nördlichen Zagros wurden die Überreste von zehn Neandertalern entdeckt, die zum Teil mit Blumen bestattet wurden – ein Hinweis auf rituelle Bestattungspraktiken. Neandertalerfossilien wurden auch in den Höhlen von Wezmeh und Bisetun im Iran gefunden. Ein Zahn aus der Felsenhöhle von Bawa-Yawan liefert zudem den entscheidenden Beweis, dass Neandertaler in der Region lebten, als Kreuzungen mit modernen Menschen noch möglich waren. Angesichts der geografischen und klimatischen Bedingungen im Zāgros-Gebirge wäre es fast verwunderlich, wenn sich die beiden Menschenarten dort nicht begegnet wären, schlussfolgern die Autoren der Studie.

Aktuelle genetische Studien der Vanderbilt University in Tennessee bestätigen, dass Neandertaler-DNA heute noch in bis zu drei Prozent der Menschen, vor allem nicht-afrikanischer Abstammung, vorhanden ist. Diese vererbte DNA beeinflusst unter anderem die Immunabwehr und die Pigmentierung der Haut.

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