Berlin. Alkohol, Cannabis, Glücksspiel: Manche werden abhängig, andere nie. Welche Rolle die Eltern spielen – aber auch Kindheit und Krieg.
Suchtmittel wirbeln unsere Hirnchemie durcheinander und machen abhängig. So weit, so klar. Trotzdem bleibt ein großes Rätsel. Warum kann der eine mal ein Glas trinken, gelegentlich kiffen oder drei tolle Tage in Las Vegas zocken gehen – und das dann genauso problemlos wieder lassen? Und warum geraten andere in den Suchtstrudel von immer mehr und immer öfter? So ganz einig ist die Forschung sich da noch nicht. Aber es gibt bereits einige sehr schlüssige Theorien.
Auch hier liegt der Grund in den Nervenbotenstoffen: Es gibt Menschen, die sozusagen von Haus aus einen Webfehler im Botenstoff-System mit sich herumtragen. Sie haben dann vielleicht nur wenig des Glücksbotenstoffes Serotonin – und fühlen sich niedergeschlagen, sind ängstlich oder leiden vielleicht sogar unter Panikattacken. Andere sind mit sehr wenig Dopamin – unserem Belohnungsbotenstoff – ausgestattet und fühlen sich minderwertig, antriebslos und leer.
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Warum neigen manche Menschen zu Alkohol und anderen Drogen?
Viele Wissenschaftler meinen, dass diese Hirnchemie-Schlagseite oft darüber entscheidet, ob jemand süchtig wird oder nicht. In unserer alkoholgetränkten, internetverrückten, reizüberfluteten Gesellschaft ist es nur eine Frage der Zeit, bis so jemand an sein Suchtmittel gerät – und kleben bleibt.
Suchtforscher sehen in vielen Drogen nichts anderes als eine Art unbewusste Selbstmedikation. Die biochemische Schlagseite seines Hirnbotenstoff-Systems mag dem Betroffenen vorher nicht einmal bewusst geworden sein. Das Einzige, was er sehr schnell merkt: Konsumiert er, fühlt er sich besser.
Menschen mit ADHS, Angst- oder Panikstörungen, Sozialphobiker oder Depressive finden in Suchtmittel allzu häufig ihre trügerische Erleichterung. Auch bei ihnen können die Grundprobleme nicht so ausgeprägt sein, dass sie damit je zum Arzt gingen. Fachleute fordern deshalb, bei Suchterkrankungen auch immer auf solche Möglichkeiten zu schauen. Geht man die Grunderkrankung nicht an, wird das auch nichts mit der Abstinenz.
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Die biochemische Schlagseite unserer Hirnchemie wird uns nicht nur in die Wiege gelegt. Wer in unserer hektischen Welt nicht aufpasst, legt sein Entspannungssystem in Schutt und Asche. Ein vollgestopfter 14-Stunden-Tag und Leistungsdruck an allen Fronten zwingt unser GABA-System in die Knie. GABA ist der mächtigste Entspannungsbotenstoff unseres Körpers. Für die Turboentspannung sorgen dann Alkohol oder Cannabis.
Ist Suchtrisiko vererbbar? Das sagt die Forschung
Auch das Erbgut entscheidet beim Thema mit. Kinder von Süchtigen haben selbst ein hohes Risiko, abhängig zu werden. Dabei ist es völlig egal, wie sie aufwachsen. An Zwillingen hat man das gut untersuchen können. Ihre Erbanlagen sind ja sehr ähnlich, bei eineiigen Zwillingen sogar identisch.
Man hat die Entwicklung von Zwillingsgeschwistern langfristig untersucht, die getrennt aufwuchsen. Ein Beispiel: Ein Zwillingsgeschwisterkind wächst behütet in einer Pflegefamilie auf, das andere bleibt bei den alkoholabhängigen, leiblichen Eltern. Erstaunliches Ergebnis: Beide Geschwister haben dasselbe Risiko, später zur Flasche zu greifen.
Sucht von den Eltern geerbt: Das sind die Gründe
Sucht ist vererblich. Eigentlich macht das doch keinen Sinn: Warum sollte die Natur ein Sucht-Gen in unsere Erbsubstanz eingebaut haben? Hat sie natürlich auch nicht. Trotzdem wird Sucht in der Familie genetisch weitergegeben. Die Erb-Macke liegt nicht in unserer eigentlichen Erbsubstanz (der DNA) verschlüsselt, sondern sozusagen eine Ebene höher. Deshalb heißt diese Forschungsdisziplin auch Epigenetik.
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Der Webfehler liegt in einem Eiweißknäuel, um das sich unser Erbgut herumwickelt. Dieses sogenannte Histon ist dafür zuständig, was aus den Erbinformationen am Ende entsteht. Bildlich gesprochen: Die DNA, das Erbgut, ist das Rezeptbuch. Das Histon ist der Koch. Während das Rezeptbuch (die DNA) quasi in Stein gemeißelt ist, kann der Koch schon mal Fehler machen.
Das Histon-Eiweißknäuel ist empfindlich auf Umwelteinflüsse und kann Schaden nehmen. Dann entstehen Probleme. Schäden am Histon entscheiden, ob jemand Diabetes oder Krebs bekommt – oder ob beispielsweise der Stoffwechsel einiger Hirnbotenstoffe nicht ordentlich funktioniert. Das Dumme ist: Unsere DNA und das Histonknäuel dazu werden im Paket vererbt. Schäden am Histon gehen also auch auf die nächste Generation über, genau wie die Erbsubstanz selbst.
Krieg und Missbrauch können späteres Suchtrisiko erhöhen
Krieg oder Hungersnöte können dem Histon zusetzen, den Betroffenen krank machen – und sogar die Gesundheit seiner Kinder und Enkel beeinträchtigen. Forscher sprechen hier von „epigenetischen Narben.“ Auch psychische Extremsituationen können dem Histon schaden, unsere Epigenetik verändern – was dann beispielsweise den Nervenbotenstoff-Haushalt beeinträchtigt. Ganz vorne: das Serotonin-System.
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Menschen, die in der Kindheit missbraucht, geschlagen oder sozial vernachlässigt wurden, haben auch noch im Erwachsenenalter deutlich niedrigere Serotonin-Spiegel. Das Gleiche gilt für Soldaten, die an einer sogenannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden.
Haben sie im Krieg schreckliche Dinge erlebt, beschädigt dies ihren Serotonin-Haushalt nachhaltig. Von missbrauchten Kindern oder Soldaten weiß man, dass sie ein großes Risiko haben, süchtig zu werden. Saufen wegen schlechter Kindheit, das kennt und akzeptiert man sogar.
Drogenkonsum: Fehler im Belohnungssystem macht anfälliger
Andere Menschen haben einen epigenetischen Fehler in die Wiege gelegt bekommen, der das Belohnungs- und Motivationssystem lahmen lässt. Wer mit einem solchen Dopamin-Webfehler durch die Welt läuft, fühlt sich ständig unzufrieden, ist unkonzentriert und traut sich nur wenig zu. Bis zu dem Tag, an dem er das erste Mal kokst oder trinkt.
Quasi alle Suchtmittel verpassen dem Dopamin einen Kick-Start – und auf einmal ist die Welt schön, das Selbstbewusstsein auf dem Höhenflug. Kurzfristig bekommt das Leben so richtig Schwung. Daher haben solche Menschen eine viel größere Gefahr, an legalen und illegalen Drogen kleben zu bleiben.
Zur Person
- Gaby Guzek ist seit mehr als 30 Jahren Fachjournalistin für Wissenschaft und Medizin.
- Sie arbeitete nach ihrem Studium unter anderem bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der Fachzeitschrift „Die Neue Ärztliche“. Jahrelang selbst von schwerer Alkoholsucht betroffen und mit den Therapiemöglichkeiten unzufrieden, begann sie, sich intensiv mit dem Phänomen Sucht auseinanderzusetzen. 2020 veröffentlichte sie im Eigenverlag ihr Buch „Alkohol adé“* und steht heute als Coach unter gaby-guzek.com und in ihrem Forum alkohol-ade.com Alkoholsüchtigen zur Seite.
- Ihr aktuelles Buch „Die Suchtlüge. Der Mythos von der fehlenden Willenskraft: Wie Sucht im Hirn entsteht und wie wir sie besiegen“ ist bei Heyne erschienen.
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