Berlin. Der Schulsport soll Kinder für Bewegung begeistern. Experten erklären, warum oft das Gegenteil der Fall ist und was an Schulen falsch läuft.

  • Für die kindliche Entwicklung ist ein gesundes Verhältnis zu Bewegung laut Experten zentral
  • Über die Frage, wie der ideale Sportunterricht aussehen soll, wird jedoch heftig diskutiert
  • Zwei Sportpädagogen erklären, was in vielen Schulen falsch läuft

Barrenturnen, Weitwurf, Volleyball oder Sprint – für die einen ist und bleibt es das liebste Schulfach, die anderen erinnern sich nur ungern an ihren Sportunterricht. Das zeigt auch die hitzige Debatte, die im Sommer 2023 entbrannte, als die Reform der Bundesjugendspiele an Grundschulen verkündet wurde. Beim Wettbewerb bis Klasse vier gelten weniger strenge Regeln, erst ab Klasse fünf wird im Wettkampf genau gemessen.

Lesen Sie auch: Die Kinder sind Sport-Muffel? So motivieren Eltern richtig

Kritiker prangern Verweichlichung, Kuschelpädagogik und Leistungsabfall an. Hessens Kultusminister Armin Schwarz (CDU) plädierte unlängst sogar dafür, die Regeln wieder rückgängig zu machen. Befürworter halten die Reform dagegen für längst überfällig. Beiden Fronten geht es vor allem um eines: die Auswirkungen des Schulsports auf die Psyche ihrer Kinder. Zwei Experten ordnen ein.

Experte über Sportunterricht: „Viele ungünstige Dynamiken“

Damit Kinder ein gesundes Verhältnis zu Sport und Bewegung entwickeln können, sind laut dem Mainzer Psychotherapeuten und Sportpsychologen Benjamin Kindermann zwei Dinge zentral: „Das eine ist die Vorbildfunktion durch die Eltern, die früh beginnen, Bewegung und Sport in den Alltag zu integrieren.“ Indem die Familie zum Beispiel, wo immer möglich, das Auto gegen das Fahrrad tauscht. „Der zweite wichtige Punkt ist, den Kindern Spaß an der Bewegung zu vermitteln“, so der Experte. „Dadurch baut sich eine intrinsische Motivation auf.“ Das könne in der Familie passieren, im Sportverein, aber auch im Kindergarten und in der Schule.

Eltern können ihren Kindern helfen, ein positives Verhältnis zur Bewegung zu entwickeln.
Eltern können ihren Kindern helfen, ein positives Verhältnis zur Bewegung zu entwickeln. © dpa-tmn | Zacharie Scheurer

Sportunterricht, wie er an vielen Schulen stattfinde, vermittle jedoch keinen Spaß am Sport. „Da gibt es viele ungünstige Dynamiken“, beobachtet der Psychologe. „Wir haben ein Notensystem, das eigentlich dazu dient, Vergleichbarkeit zu schaffen.“ Dieser Leistungsgedanke sei jedoch, gerade im Breitensport, kontraproduktiv: „Aus psychotherapeutischer Sicht führt das leider eher dazu, dass die weniger Sportlichen durch schlechte Noten in ihrer vermeintlichen Unsportlichkeit bestätigt werden.“ Diese Demotivation werde ins Selbstbild integriert: „Ich bin ein unsportlicher Mensch, ich muss es gar nicht erst versuchen.“

Sozialer Druck kann den Selbstwert von Kindern schmälern

Hinzu komme die Gruppendynamik. Das klassische Beispiel: Teamwahl beim Fußball. Einer oder eine wird meist als Letztes gewählt. Das wirke sehr ausgrenzend und transportiere für Kinder: „Ich kriege keine Anerkennung von Gleichaltrigen, weil ich bestimmte Kriterien – in diesem Fall Sportlichkeit – nicht erfülle.“ Mit ihrem Körper auf dem Präsentierteller zu stehen, könne für Kinder und Jugendliche „gerade in der sensiblen Phase der Identitätsbildung“ zusätzlich belastend sein. „Vor allem bei Mädchen oder jungen Frauen gibt es zu Beginn der Pubertät eine gewisse Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper“, so Kindermann. „Die ist in normalen Klamotten noch zu kaschieren, aber beim Schwimmen geht das nicht.“

All diese Faktoren könnten zu einem verminderten Selbstwert führen. Selbst wenn Patienten Jahre später wegen psychischer Probleme zu ihm kämen, höre er oft Glaubenssätze wie: Wenn andere mich nicht mögen, mag ich mich selbst auch nicht. „Wenn man dann ein bisschen nachforscht, woher diese Vorstellung kommt, findet man immer wieder Elemente, die auch auf die Schulzeit und den Sportunterricht zurückgehen.“

Sportpädagoge: Lobenswert wäre Abkehr von „Höher, schneller, stärker“

„Ich kann nicht sagen, Bewegung fördert die Gesundheit, wenn gleichzeitig das soziale Umfeld dafür sorgt, dass Kinder sich schämen, verängstigt sind, stigmatisiert werden“, betont auch Christian Gaum, Professor für Sportpädagogik an der Ruhr-Universität Bochum. Es sei nicht damit getan, die Kinder ein paar Runden um den Platz rennen zu lassen. „Man könnte meinen: Jetzt haben sie sich bewegt. Aber wir verkennen, dass Sportunterricht ein Sozialgeschehen ist.“

Manchen Kindern ist es unangenehm, im Sportunterricht und besonders beim Schwimmen mit ihrem Körper auf dem Präsentierteller zu stehen, warnen Experten.
Manchen Kindern ist es unangenehm, im Sportunterricht und besonders beim Schwimmen mit ihrem Körper auf dem Präsentierteller zu stehen, warnen Experten. © Fabian Strauch / FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

In der Theorie, so der Experte, soll Sportpädagogik Kindern und Jugendlichen die Sportkultur zeigen und es ihnen ermöglichen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Das Motto „Erziehung zum und durch Sport“ passe aber nicht vollständig zusammen mit dem Olympischen „Höher, schneller, stärker“, so Christian Gaum: „Um Kinder für Sport zu begeistern, muss ich Alternativen aufzeigen: Ich kann mich mit anderen messen, mich verbessern, ich kann aber auch Teil eines Teams sein oder Körperwahrnehmung zum Thema machen.“

Schulsport: „Spaß muss im Vordergrund stehen“

„Viele Sportlehrkräfte wissen um die Herausforderungen und sind sehr engagiert“, so die Erfahrung von Christian Gaum. Gegängelt würden sie durch ein leistungsorientiertes Schulsystem. „Wir müssen im Sport Noten geben, sonst wären wir als Fach völlig unbedeutend“, diese Argumentation höre er oft. „Aber Leistung im Sport umfasst viel mehr als ein Ergebnis“, so der Pädagoge. „Weitsprungmaße und Sprintzeiten sind zwar objektiv – aber hochgradig eindimensional.“ Gegenseitige Unterstützung, Fairness und Anstrengung spielten auch eine Rolle. „Gerade weil Bewegung maßgeblich zur Entwicklung beiträgt, sind unsere Sportnoten, so wie wir sie geben, eher kontraproduktiv.“ Bei sportlichen Wettkämpfen, wie etwa den Bundesjugendspielen, wäre eine Möglichkeit, den Wettbewerb spielerischer und in Teams zu gestalten.

Befürworter der Benotung halten den Nutzen der Leistungsmessung dagegen: Kinder lernen, sich einzuschätzen, mit Erfolgen und Rückschlägen umzugehen, so ihr Tenor. „Leistungsbewertungen haben auch eine erzieherische Funktion, die häufig in der Debatte vergessen wird, die aber für die Persönlichkeitsentfaltung immens wichtig ist“, geben etwa die Bildungsforscher Nils Neuber und Klaus Zierer in einem Gastbeitrag zur Debatte um die Bundesjugendspiele im Deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung zu bedenken. Für den gewünschten Effekt bräuchte es jedoch qualifizierte Sportlehrkräfte, was in Zeiten von Lehrkräftemangel und Seiten- oder Quereinsteigern nicht selbstverständlich sei.

Auch Benjamin Kindermann sieht die Benotung im Sportunterricht kritisch. Idealer Sportunterricht würde auch die sportliche Entwicklung der Schüler in den Blick nehmen: „Indem ich den Kompetenzgewinn benote, habe ich eine gewisse Chancengleichheit wiederhergestellt.“ Damit könne man auch Kinder, die Schwierigkeiten mit Sport haben, positiv bestärken. Fest stehe: „Man wird es nur schaffen, Kinder und Jugendliche zum Sport zu motivieren, wenn Spaß im Vordergrund steht.“

Dieser Artikel erschien zuerst am 27. Oktober 2023.