London. Wenn die eigene Parkbank zum Privatbesitz wird. In London führen Obdachlose Touristen auf Nachfrage durch ihre Heimatstadt. Wichtig sind dabei nicht die klassischen Touristenmagnete, wie Big Ben oder Tower Bridge, sondern die neuralgischen Punkte eines Lebens auf der Straße.

"Während des Zweiten Weltkriegs bauten Frauen die Waterloo-Brücke wieder auf", sagt Viv - wie alle Stadtführer, wenn sie Touristen London zeigen. "Und hier sehen Sie die Stufen unter der Brücke, dort habe ich zwei Monate lang in einem Verschlag aus Paletten und Kartons geschlafen", fährt die 50-Jährige fort. Anekdoten wie diese unterscheiden Vivs Rundgang von allen anderen Touren durch die britische Hauptstadt. Viv ist obdachlos. Seit mehr als zehn Jahren lebt sie auf den Straßen und Plätzen Londons. "Bis 1969 musste man für die Benutzung der Brücke Maut zahlen", sagt Viv.

Historisches und Persönliches sind bei ihrer Führung gleichrangig: "An Sonntagen hat eine Familie bis zu 200 Obdachlose mit Essen versorgt." Die Idee, Menschen ohne festen Wohnsitz als Stadtführer einzusetzen, stammt von der Initiative "The Sock Mob". Die Touren zu Fuß geben Einheimischen und Besuchern die Möglichkeit, ein Stadtviertel aus der Sicht eines dort lebenden Obdachlosen zu entdecken.

Viv und ihre eigene Bank

Vivs Tour beginnt am Temple-Platz am Nordufer der Themse. In der Mitte des Platzes steht eine Statue des Industriellen William Edward Forster. Vier Sommer lang war dieser Ort Vivs Zuhause. "Die Bank dort drüben war meine", sagt die ausgemergelte Frau mit dem lückenhaften Gebiss. "In so einem Park, der nachts abgeschlossen wird, ist man sicher. Wenn eine Bank frei wird, verbreitet sich das über Mund-zu-Mund-Propaganda."

Viv spricht hektisch, die Aufregung treibt ihr Schweiß auf die Stirn. Doch die Gruppe von zehn Touristen hört ihr gebannt zu. Nächster Stopp sind die Arkaden beim Luxushotel Savoy. "Bevor sie die Arkaden mit Gittern absperrten, haben hier bis zu 200 Leute geschlafen. Eines nachts haben Männer eine schlafende alte Frau mit Benzin übergossen und versucht sie anzuzünden", sagt Viv. "Zum Glück wurden sie vertrieben."

Keine Bitterkeit in der Stimme

"Hat Ihnen das Hotel nichts zu essen gegeben?", fragt einer der Touristen. "Das ist ein Hotel für die Reichen", antwortet Viv ohne Bitterkeit in der Stimme. Nach und nach werden die Fragen persönlicher. "Warum sind Sie auf der Straße gelandet?", will der Niederländer Paul van Beusekom wissen. "Meine Ehe ging in die Brüche. Da habe ich meine zwei Kinder zurückgelassen und bin 1997 auf und davon", erzählt Viv. Seither lebt sie auf der Straße, wenn sie nicht, wie zur Zeit, für eine Weile Unterschlupf bei Verwandten findet.

Neben Viv bieten noch einige andere Obdachlose Stadtführungen in London an. Die Tour kostet zehn Pfund (zwölf Euro). 60 Prozent der Einnahmen gehen an die Führer, zudem bekommen sie monatlich 40 Pfund für Transport und 20 Pfund für Telefongebühren. Pro Woche verdiene sie auf diese Weise zwischen 25 und 30 Pfund, sagt Viv. "Das ist nicht viel, aber trotzdem lohnt es sich." Viv geht es nicht nur um den Verdienst, sondern auch darum, fit im Kopf zu bleiben und ihre Tage sinnvoll zu füllen. "Dann habe ich noch anderes zu tun als Straßenzeitungen zu verkaufen", sagt Viv.

Nicht alle Obdachlosen sind Faulpelze

Die Touren zeigten, dass "nicht alle Obdachlosen Faulpelze sind", sagt die Britin Angie Hester, die zu Besuch in London ist. Der Niederländer van Beusekom erklärt, viel mehr als für die Geschichte der Stadt interessiere er sich für das Leben der Leute ohne Wohnsitz. "Normalerweise ist es mir zu peinlich, Obdachlose zu fragen, warum sie auf der Straße leben. Hier kann ich das tun." (afp)