Berlin. Arbeit und Schule lassen den Menschen zu wenig Freiraum, warnt der Neurobiologe Gerald Hüther. Er ruft zu mehr Unbekümmertheit auf.
Die Menschen spielen. Am Computer, auf dem Smartphone, auf dem Rasen. Online und analog, in Gruppen, immer häufiger alleine. Trotzdem sehen Gerald Hüther von der Universität Göttingen und Christoph Quarch das Spiel bedroht – denn was die meisten für Spiel halten, ist in ihren Augen etwas ganz anderes. Der Neurobiologe und der Philosoph haben daher ein Buch geschrieben dessen Titel „Rettet das Spiel“ (Hanser Verlag, 20 Euro) ein eindringlicher Appell ist, die Bedeutung einer unbekümmerten inneren Einstellung wiederzuentdecken. Ein Gespräch mit Gerald Hüther über Kreativität, Langeweile und Achtsamkeit.
Herr Hüther, spielen Sie häufig?
Gerald Hüther:
Ich spiele eigentlich jeden Tag. Wenn mich keiner sieht, versuche ich mal rückwärts zu gehen oder mich im Kreis herum laufend vorwärts zu bewegen. Wenn ich hier an meinem Schreibtisch sitze, liebe ich es sehr, den Stift wegzulegen und einfach mal mit meinen Gedanken zu spielen.
Wenn Menschen das Wort „Spiel“ hören, denken sie an Monopoly, Computerspiele, vielleicht Fußball. Was Sie beschreiben, klingt nach etwas anderem.
Es geht eher um eine innere Einstellung, wie man Alltagssituationen bewältigt. Spiel ist alles, was der Mensch tut, ohne bestimmte Zwecke zu verfolgen. Und damit ist das Spiel das Gegenteil von dem, was wir alle die meiste Zeit tun: Dinge abarbeiten, gut funktionieren.
Wozu brauchen wir das Spiel?
Um kreativ sein zu können. Denken Sie an Kinder, die sich im freien unbekümmerten Spiel, zum Beispiel mit dem Küchengeschirr, fast verlieren. Die Fantasien mit Dingen entwickeln, die eigentlich für ganz andere Zwecke bestimmt sind. Diese Kreativität zeichnet uns als Menschen aus und hat uns wahrscheinlich erst zu dem gemacht, was wir heute sind. Und wir sollten deshalb sehr darauf achten, dass uns diese spielerische Kreativität nicht abhandenkommt.
Besteht die Gefahr? Ihr Buch heißt „Rettet das Spiel“. Klingt dramatisch.
Die Ökonomisierung beherrscht unser eigenes Denken, das Familienleben, Krankenhäuser und Altenheime, die öffentliche Verwaltung und sogar die Kirche. Unser Menschsein wird aber nicht durch das Erzielen möglichst großer Gewinne bestimmt, sondern durch die immer klügere Erschließung der Möglichkeitsräume, die sich uns bieten. Mit anderen Worten: Es geht darum, dass wir unsere Talente, Begabungen, Potenziale so gut es irgendwie geht zur Entfaltung bringen. Das können wir nicht, wenn wir unseren Entwicklungsprozess ausrichten nach den Erfordernissen eines Wirtschaftssystems.
Kreativität entsteht also erst durch Spiel?
Richtig. Wenn Kinder Augenblicke erleben, in denen niemand etwas von ihnen will und sie kein anderes Bedürfnis wie etwa Hunger bedrängt, fangen sie an, zu spielen. Als Erwachsene nennen wir diesen Zustand Langeweile. Dieses zweckfreie Spielen können wir bei allen lernfähigen Säugetieren beobachten.
Wann hört das auf?
Wenn Pädagogen oder Eltern anfangen Kindern zu sagen, was sie zu lernen und zu spielen haben. Wissenschaftlich würde man es als eine Situation beschreiben, in der das Kind zum Objekt gemacht wird. Zum Objekt der Ziele, Vorstellungen und Bewertungen anderer. In dem Moment bekommt es Druck von außen, und sein Gehirn reagiert sofort mit dem Unterbrechen des Bedürfnisses zum freien Spiel. Denn Spiel unter Druck oder in Angst ist unmöglich.
In Ihrem Buch klingt Kritik an Frühförderung an. Nimmt sie den Kindern die Lust am Entdecken?
Wenn Eltern alles dafür tun, damit ihr Kind im Kampf um die besten Positionen nicht abgeschlagen wird, ist das nur verständlich. Aber diese Eltern müssen sich fragen: Wo bleibt bei all den Fördermaßnahmen der Raum, in dem das Kind aus sich heraus auf eigene Ideen kommen kann? Wenn alles vorgegeben ist und kein Raum zum eigenen Entdecken bleibt, wird das Kind sehr leicht die innere Überzeugung herausbilden: Es kommt immer darauf an, die Dinge so abzuarbeiten, wie es vorgegeben ist.
Wie erklären Sie als Neurobiologe, was beim Spiel im Gehirn passiert?
Sie kennen vielleicht noch diese Apothekerschränke mit ganz vielen Schubfächern. Auch im Hirn gibt es Schubfächer in denen unterschiedliche Wissensinhalte gespeichert sind. Wenn wir nun etwas ganz Bestimmtes tun, sagen wir Autofahren, dann öffnen sich zum Beispiel drei Schubladen. Dann arbeiten Sie mit dem, was aus diesen drei Schubladen herauskommt. Das nennen Forscher fokussierte Aufmerksamkeit. In dem Augenblick aber, in dem Sie ihr Auto abstellen, können Sie in Gedanken anfangen zu spielen. Alle Schubladen gehen gleichzeitig auf.
Wir kombinieren Dinge, die wir sonst nicht miteinander in Verbindung setzen würden?
Genau. Denn Kreativität ist nicht, dass uns etwas völlig Neues einfällt. Eher dass es uns gelingt, Dinge miteinander auf eine andere als die bisherige Weise zu verknüpfen. In dem Augenblick, in dem ein Mensch spielt, hört die fokussierte Aufmerksamkeit auf, es öffnet sich die Wahrnehmung und sie kommen in einen Zustand – halten Sie sich fest – den man Achtsamkeit nennt.
Die Achtsamkeit, von der man allenthalben liest?
Genau die. Jetzt sind wir plötzlich ganz nah bei den modernsten Theorien darüber, was Menschen hilft, sich selbst zu finden und aus schwierigen Situationen herauszukommen. Dafür werden Achtsamkeitstrainings veranstaltet, teilweise für viel Geld. Man könnte den Menschen aber auch raten, dass sie mal wieder frei und unbekümmert spielen.
Ich habe gelesen, dass zu keiner Zeit so wenig Neues erfunden wurde wie heutzutage. Fehlen die „Spielräume“?
Es ist gut vorstellbar, dass es uns seit einigen Jahrzehnten nicht mehr so gut gelingt, sogenannte Breakthrough-Innovationen zu entwickeln, also Durchbruchsinnovationen. Das sind Dinge, die plötzlich alles auf den Kopf stellen, die Sachverhalte auf eine neue Art miteinander kombinieren, sodass plötzlich ein Spektrum an neuen Möglichkeiten entsteht. Die Erfindung der Dampfmaschine, der Eisenbahn, des Computers, die Doppelhelix, die Relativitätstheorie. Das sind Innovationen, die Menschen nur gelingen, wenn sie frei und unbekümmert über ein Thema nachdenken.
Kreativität am Schreibtisch ist unmöglich?
Schwierig jedenfalls. Wenn Sie die Lebensläufe der Menschen anschauen, die solche großartigen Entdeckungen gemacht haben, stellen Sie fest: Sie haben ihre Entdeckungen unter der Dusche gemacht, beim Spazierengehen, im Bett. Dort, wo man aus der Zweckorientierung herauskommt.
Müssen wir jetzt alles auf den Kopf stellen? Arbeitswelt, Alltag? Das ganze System?
Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Wiederentdeckung des zweckfreien, unbekümmerten gemeinsamen Spielens ist eine subversive Untergrabung der Grundlagen unseres ökonomischen Systems. Es ist aber nicht der Aufruf zu einer Revolution, sondern der Aufruf, sich selbst wiederzufinden.
Gerald Hüther und Christoph Quarch stellen am Montag, 21. November, ihr Buch „Rettet das Spiel“ in der Urania Berlin vor.
Beginn: 19.30 Uhr
Wo: Urania, Humboldt-Saal, An der Urania 17, 10787 Berlin
Eintritt: 8 Euro, ermäßigt 6,50 Euro