Münster. Uhhh, da schlägt das Herz doch etwas schneller. Keine Seitenwände, kein wirkliches Dach. Das hier ist kein Flugzeug, sondern ein Ballon.
Es geht hoch, und noch höher, Ruth und Björn werden immer kleiner, sind kaum noch zu erkennen. Ihre winkenden Arme wünschen eine gute Reise. Im Korb ist es still. Diese Lautlosigkeit fühlt sich sanft an und kaum ist sie wahrgenommen, verspüre ich eine tiefe Ruhe. „Schau mal, da ist der Sportplatz, an dem wir vorbeigekommen sind“, plappere ich los, sobald sich der Blick endlich für die Umgebung öffnet. Wir fliegen! Auch wenn wir – korrekt ausgedrückt – mit einem Ballon fahren.
Wie geordnet das alles aussieht. Als hätte Gott nicht nur an sieben Tagen die Erde erschaffen, sondern sie mit Maßband, Zirkel und Taschenrechner zentimetergenau eingeteilt, möbliert und noch jede Menge Farbe hinterhergekippt. Kulturlandschaft nennt man das wohl. Bearbeitete Oberfläche, wohin das Auge schaut. Blick nach links – das herrliche Münster, die vertraute Silhouette, Dächer, Straßen, Baustellenkräne, Dom, Uniklinik-Türme – da hinten müsste sich die WestLotto-Zentrale befinden.
650 Kilo Ausrüstung
Wolfgang lacht und freut sich über meine Begeisterung. Unzählige Male ist der 70-Jährige schon von der Wiese in Münster-Coerde gestartet – eine Vereinbarung mit dem Landwirt erlaubt ihm, mit Geländewagen und schwerem Gepäck hier mittenrein zu fahren und rund 650 Kilo Ausrüstung auszubreiten. Ballonfahren ist nicht bei jedem Wetter möglich. Was die Segelflieger brauchen – Aufwinde – ist fürs Ballonfahren gefährlich. Im Sommer bedeutet das: am besten keine zu kräftige Sonneneinstrahlung, denn die würde die Erdoberfläche zu sehr erwärmen und für zu viel Thermik sorgen, und Starts zwei Stunden vor Sonnenauf- oder Sonnenuntergang.
Drei Mal waren Wolfgang und ich schon verabredet, bis es klappte mit diesem besonderen Ausflug. Aber nicht nur bei uns beiden musste der Kalender frei sein. Ohne Boden-Team und Verfolger ist der Ballöner nichts. Transport, Aufrüsten, das Luftfahrzeug verfolgen und hinterherfahren, Abrüsten. Dafür werden etliche Hände und im Idealfall Herzen gebraucht, die für dieses Hobby schlagen. Bei Marianne, Wolfgangs Sohn Björn, Tochter Ruth und den Freunden Marco, Wilfried, Hildegard und Dirk sitzen sie zudem am rechten Fleck. Liebevoll von Wolfang „Erdferkel“ genannt, widmen sie – zumindest im Sommer – den größten Teil ihrer Freizeit dem Ballonsport. In manchen Phasen sind sie jeden Abend unterwegs – oder halten sich zumindest bereit.
Bodencrew
Ihre Vertrautheit und Gemeinschaft wirkt ansteckend. Ich bin gleich mittendrin. „Marco ist 2,10 Meter groß“, erklärt Wolfgang. „Den brauche ich, damit wenigstens einer über den Mais gucken kann, wenn wir mal ungünstig im Feld landen sollten.“ In die Höhe kann ein Ballon zuverlässig manövriert werden. Die Richtung aber gibt der Wind vor.
Seit 1978 hat Wolfgang seine Pilotenlizenz, er feiert in diesem Jahr also großes „Dienstjubiläum“. Plötzlich wird es unangenehm laut, störend, vorbei ist die zwischen dem Feuern herrschende, selige Stille. Lastwagen, Autos, Busse und Motorräder dröhnen und donnern über den Asphalt der Autobahn A1 auf ihrem Weg Richtung Bremen oder Ruhrgebiet. Selten habe ich so gut verstanden, warum es Lärmschutzwände gibt und wie viele Menschen sicher trotzdem noch von Verkehrsgeräuschen belastet sind.
40 Jahre Pilotenlizenz
Stolze 550 Meter ging es heute schon hoch hinaus, aber je tiefer die Fahrt, desto schöner. Gerade genießen wir den Blick auf das barocke Haus Rüschhaus mit seiner Parkanlage, der Ortsteil Roxel zieht an uns vorbei, die Stadt wirkt friedlich und satt im warmen Licht. Nun bleibt es ländlich und auf etwa hundert Metern Abstand vom Erdboden spielt dieses Fahrzeug seine Qualitäten besonders gut aus. Ich entdecke den Schatten des Ballons auf Getreidefeldern, schaue Kindern beim Planschen im Garten zu, winke einem spazierengehenden Mann und seinem wedelnden Hund, sehe Mais und Getreide soweit das Auge reicht. Wie süß! Da hat jemand vor seinem Hof ein Herz gepflanzt.
Eine Reiterin führt einen Schimmel, der in Anbetracht des – wenn auch entfernten – Ballons ein wenig scheut. „Da muss man nicht zu nah kommen“, erläutert Wolfgang. „Auf Kühen könnte man landen, die bewegen sich oft überhaupt nicht vom Fleck“, berichtet er schmunzelnd. Aber Pferde sind da schon sensibler.“
Nicht ins Maisfeld
So langsam wollen wir einen Landeplatz finden. Sicher runterkommen ist bei vernünftigem Wetter kein Problem. Aber wer will schon im Feld landen, womöglich Pflanzen oder Zäune zerstören und mit allergrößten Mühen Ballon, Gestänge und Korb von dort bergen (auch wenn man einen kräftigen Marco hat)? Die Bodencrew gibt Zeichen. Von wegen! Wir sind kurz vor Havixbeck und hier führt zu nahezu jedem Hof eine eigene Stromleitung. Also noch mal hoch, dann wieder runter, der Korb streift über den Mais. „Und was ist dahinter?“, ruft Wolfgang. „Ein Weg!“, antwortet Björn, Daumen hoch, hier kann das Fahrzeug reinfahren. Runter geht’s, sanfter Stopp. Geschafft! Wie schade. Ich fühlte mich wie eine lebendige Drohne. Früher hätte man wohl „Vogel“ gesagt, und eigentlich passt das auch besser. Denn beim Ballonfahren waren wir ganz eins mit der Natur.