Essen. Millionen leiden unter dem schweren Krankheitsbild. Bis Betroffene jedoch Klarheit haben, dauert es mituner lange.
Fünf bis zehn Prozent der Deutschen haben nach Angaben der Gastroliga mit einem Reizdarm zu tun. Betroffene werden von Durchfall, Verstopfung, Schmerzen, Blähungen oder Übelkeit begleitet – manchmal täglich. „Der Leidensdruck ist teilweise höher als bei Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen“, sagt Prof. Michael Schemann, Humanbiologe an der Technischen Universität München. Schemann forscht seit Jahren über die Ursachen des Reizdarmsyndroms.
Vor einigen Jahren noch gingen Experten davon aus, dass der Reizdarm fast ausschließlich durch Stress ausgelöst wird. Das hat sich inzwischen als falsch erwiesen. „Die meisten Patienten sind schon bei vielen Ärzten gewesen, bis sie bei uns landen“, weiß Prof. Thomas Frieling, Neurogastroenterologe und Direktor der Medizinischen Klinik 2 im Helios Klinikum Krefeld. Nicht selten seien ihre Beschwerden mit einem Lächeln abgetan worden. „Aber heute wissen wir: Der Reizdarm ist eine organische Erkrankung, die in der normalen Routine noch nicht feststellbar ist.“
In der Wissenschaft werden verschiedene Auslöser diskutiert
Gegenwärtig wird ein Reizdarm durch die Ausschlussdiagnostik abgeklärt. Der Patient durchläuft Magen- und Darmspiegelungen, Atemtests auf Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Ultraschall, Stuhl- und Blutuntersuchungen. Zeigt sich dabei keine Auffälligkeit, wird die Diagnose Reizdarm gestellt. „In der Klinik wird derzeit noch symptomorientiert gearbeitet“, sagt Biologe Schemann. Heilen kann man die Krankheit bislang nicht, die Symptome lindern schon.
Für die Beschwerden können verschiedene Störungen verantwortlich sein, die Forschung hat längst nicht alle Puzzleteile beisammen. Denn der menschliche Darm ist komplex. Er ist der Hauptsitz des Immunsystems mit vielen verschiedenen Zellen und Botenstoffen. Diese interagieren und wirken auf den gesamten Organismus.
Gestörte Bewegung kann Reizdarm verursachen
In der Wissenschaft werden eine gestörte Bewegung, Mikroentzündungen, eine besondere Schmerzwahrnehmung und eine veränderte Darmflora als Auslöser für den Reizdarm diskutiert und erforscht. Michael Schemann und sein Team haben bei Patienten feine Mikroentzündungen im Darm entdeckt. „Es sind keine direkt sichtbaren Entzündungen wie bei chronischen Darmentzündungen, aber wir sehen, dass die Reaktivität und Anzahl der Immunzellen erhöht sind.“ Das sensibilisiere das Darmnervensystem, Stoffe wie Histamin und Proteasen werden freigesetzt, die eine Immunreaktion auslösen.
Untersucht man die Passagezeit eines Nahrungsmittels beim Reizdarmerkrankten, zeigt sich manchmal, dass sich Magen oder Darm anders bewegen als bei Gesunden. Das führt zu einer schnellen oder langsamen Verdauung – und zu Schmerzen. Bei einem Teil der Patienten herrscht hier ein Überschuss an Gallensäure in Dünn- und Dickdarm, der Durchfall zur Folge hat. Diesen Menschen helfen Medikamente, die Gallensäure im Darm binden.
Mitunter tritt das Reizdarmsyndrom auch nach einer Infektion auf. „Hier spielen nicht nur Infektionen direkt an Magen und Darm eine Rolle, sondern auch zum Beispiel am Urogenitaltrakt“, sagt Schemann. Auffällig ist: Die Darmflora dieser Patienten setzt sich anders zusammen. „Vielen fehlen Bakterien vom Bifidostamm“, sagt Gastroenterologe Frieling. Von Stuhluntersuchungen, die den Darmflorastatus messen, halten Frieling und Schemann jedoch wenig. Die Messung sei durch die zeitliche Verzögerung zu ungenau. In der Forschung haben diese Untersuchungen einen höheren Stellenwert. Denn viele Patienten profitieren von sogenannten Probiotika, natürlichen Bakterien. Welche genau Linderung bringen, müssen Tests zeigen. Joghurts, die mit diesen werben, helfen hier nicht – die Dosis ist dafür zu niedrig.
Betroffene werden auch mit Antidepressiva behandelt
Fast allen Reizdarmtypen gemein ist die gestörte Nervensensibilität. Patienten reagieren sehr empfindlich auf Dehnungsreize, die während der Verdauung auf den Darm wirken und von gesunden Menschen gar nicht wahrgenommen werden. Aus diesem Grund kommen in der Behandlung seit einigen Jahren auch Antidepressiva zum Einsatz, die die Schwelle der Schmerzwahrnehmung erhöhen sollen. „Dosiert werden sie jedoch viel geringer als bei einer Depression“, sagt Frieling.