Berlin. Nicht alle, die nach Berlin reisen wollen (noch) das Brandenburger Tor, den Reichstag oder die Museumsinsel sehen. Die Drei-Millionen-Einwohnerstadt hat sehr viel mehr zu bieten. Vergangenes, fast Vergessenes. Daraus wurde ein Geschäftsidee für Touren abseits der Touristenpfade. Weit abseits.
Mit Sandaletten und Sandalen könnte es mitunter schmerzvoll werden. Glasscherben, verrostete Eisenkanten, abgebrochene Treppenstufen spicken den Weg durch das alte Fabrikgebäude in Berlin. Andreas Böttger leuchtet mit seiner Taschenlampe die dunklen Gänge aus.
Ein kleines Grüppchen Touristen folgt ihm. Fernab von Museumsinsel, Brandenburger Tor und Fernsehturm bringen der 36-Jährige und sein Geschäftspartner Thilo Wiebers Hauptstadtbesucher und einheimische Interessierte dorthin, wo sie normalerweise nicht hinkommen: zu den verlassenen und nicht zugänglichen Orten Berlins.
Idyllisch wirkt die leere Backfabrik in Lichtenberg keineswegs. Seit dem Fall der Mauer pfeift der Wind durch die Hallen, in denen einst riesige Backöfen Brot und Brötchen für die Berliner produzierten. "1800 Brote konnte eine Maschine pro Stunde backen", erzählt Böttger von den Veranstaltern go2know und zeigt auf ein Fundament, auf dem das Gerät wohl mal gestanden hat. Das Backkombinat gehörte der Konsumgenossenschaft, bis die Wende kam und die Produktionsstätte aufgeben musste.
Der Osten Berlins ist reichlich gesegnet mit Industriebrachen. Für die einen sind sie ein hässlicher Fleck, für andere wie Andreas Böttger "faszinierend und geheimnisvoll". Mit seiner Kamera habe es ihn schon immer zu alten Industrieanlagen, Bunkern und historischen Gebäuden gezogen, erzählt er. Aus dem Hobby wurde eine Geschäftsidee.
Seit zwei Jahren bieten die Berliner Touren an. Mehr als 2000 Besucher pro Jahr nehmen ihm zufolge mittlerweile daran teil. Einige von ihnen reisten eigens aus dem Ausland an.
Lange Gespräche mit den Eigentümern
Bei dem Rundgang durch die verlassene Großbäckerei laufen die Digitalkameras heiß. "Viele, die sich uns anschließen, kommen wegen der Fotomotive", sagt der 36-Jährige. In den düsteren Fabrikhallen überraschen häufig Zeichnungen an den Wänden. Dort durften sich vor längerer Zeit Künstler austoben. Bunte riesige Streetart-Bilder sind entstanden, "mit Erlaubnis des Besitzers", ergänzt Wiebers.
Das Backkombinat gehört einem Investor, der laut Böttger Ateliers und Luxuswohnungen in dem 100 Jahre alten Gebäude bauen will. Ohne Einverständnis der Eigentümer bleiben die Türen zu den betagten Gebäuden sowieso verschlossen. "Zunächst müssen wir recherchieren, wem die Gebäude überhaupt gehören", erzählt Wiebers. Oft würden sie rasch den Besitzer wechseln.
Ist der Eigentümer ausfindig gemacht, beginnen die Gespräche. "Häufig ist lange Überzeugungsarbeit nötig", berichtet sich Böttger. Meist ließen sich die Fabrikbesitzer mit dem Argument überzeugen, dass durch die Touren die leer stehenden Bauten gleichzeitig vermarktet würden.
Die Touristen nehmen an den ungewöhnlichen Ausflügen auf eigene Gefahr teil. "Das ist es mir wert, sowas bekomme ich nicht immer geboten", sagt eine junge Frau mit Rucksack und Fotoapparat. Böttger hat soeben eine Liste herumgereicht, in der die Teilnehmer bekundet haben, dass sie im Schadensfall keine Haftungsansprüche stellen.
Nur der Geruch von Geräuchertem blieb
Im aktuellen Tourangebot stehen unter anderem eine alte Papiermühle, das Frauensanatorium der Heilstätten im brandenburgischen Beelitz und eine leerstehende Fleischfabrik in Berlin, in der noch immer der Geruch von Geräuchertem in der Luft liegt.
Im Keller des Backkombinats drängt Böttger zur Eile. "Haben Sie es bemerkt, hier riecht es nach Schimmel", begründet er. Zu lange sollte man nicht die Luft nicht einatmen. In den Räumen unterhalb der Produktionsstätte gibt es trotzdem einiges zu entdecken. Im Dunkeln tauchen eine Kegelbahn und Billardtische auf. "Hier haben sich die Fabrikarbeiter nach ihrer Schicht vergnügt", berichtet der Reiseführer. Die Kegel stehen noch und an der Bahn eine leere Brauseflasche aus DDR-Zeiten. (dapd)