Taiwan. Millionen Einheimische und Touristen besuchen jedes Jahr das Laternenfestival auf Taiwan. Das Event findet kurz nach dem chinesichen Neujahr statt.
Die Mädchen in weißen Plastikregenjacken mit spitzen Plastikkapuzen stehen auf den Bahngleisen von Shifen und zählen bis drei, „Yi, er, san“. Dann lassen sie ihre Wünsche in den bewölkten Himmel fliegen. „Love & Peace“ steht auf English auf ihrem kühlschrankgroßen Heißluftballon aus Papier, dazu auf Chinesisch ein paar Stichworte über einen Lottogewinn, die Liebe, beste Gesundheit und eine erfolgreiche Uni-Abschlussprüfung.
Etwa alle zehn Meter steht eine weitere Gruppe von Menschen, die einen Ballon zum Flug vorbereitet und mit dem Handy Erinnerungsfotos knipst. Nur in Shifen im Nordosten Taiwans und ein paar Nachbardörfern sind die fliegenden Wunschzettel erlaubt. Weil es an 200 Tagen im Jahr regnet und dadurch die Feuergefahr nicht so groß ist. Und weil es hier Tradition ist. Einst wurden die Himmelskörper als Signale ans Nachbardorf verwendet, wenn Gefahr drohte. Anfang des 20. Jahrhunderts, als die japanischen Kolonialherren Kohlebergwerke in die umliegenden Berge trieben, änderte sich der Zweck der Ballons. Nun ging es um Wünsche, und meistens um einen bestimmten: Nachwuchs, und zwar männlichen. Das war besser für die Arbeit im Bergwerk.
Tüfteln am besten Brennstoffgemisch
„Grandma“ Lin Huang Mu Ban hat die großen Zeiten der Kohleförderung noch miterlebt und früher sogar selbst im Schacht mitgeholfen. Sie ist 86, trägt eine rote Schürze mit Hibiskusblüten drauf und eine etwas zu große goldgerahmte Brille.
Mit kräftigen Händen streicht sie Leim auf den Rand eines roten Fünfecks aus Papier, vier Fünfecke ergeben einen Ballon. Seit 29 Jahren stellt sie die Himmelskörper her. Kurz nachdem ihr Mann starb, widmete sie sich ganz dem Laternenhandwerk und eröffnete einen kleinen Laden. „Grandma’s Sky Lantern Shop“, die Eingangstür wird heute von Postern einer Micky Maus und einer Hello-Kitty-Katze bewacht. Über der Kasse hängt ein Schwarzweißfoto des Verstorbenen, der ein beliebter Grundschullehrer im Dorf war.
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„Nach dem Tod meines Vaters wollte sie, dass ihre Laternen höher fliegen als alle anderen“, sagt Lin Shih Ming, 53, ihr Sohn. Er leitet seit Jahren die Geschäfte und tüftelte nicht nur das beste Brennstoffgemisch aus – 50 Prozent Kerosin, 50 Prozent Olivenöl –, sondern auch die perfekte Größe für die immer noch in Handarbeit hergestellten Eigenkreationen: etwa 1,40 Meter hoch, rund 90 Zentimeter breit. „Wenn sie kleiner sind, werden die Flugeigenschaften schlechter“, sagt er.
Größter Ballon so hoch wie neun Stockwerke
Mit herzförmigen Varianten habe er eine Zeitlang experimentiert, aber ihr Aufstieg war mehr Straucheln als Schweben. Einmal habe er versucht, einen Rekord aufzustellen: „Mein größter Ballon war so hoch wie neun Stockwerke“, erinnert er sich.
Kaum ein anderes Land ist so laternenverrückt wie Taiwan: Millionen Einheimische und Touristen besuchen jedes Jahr das Laternenfestival, das immer in den ersten Wochen nach dem chinesichen Neujahr auf dem Kalender steht. In Taichung und Taipeh entstanden riesige Parks mit leuchtenden Skulpturen, von historischen Personen über Götterbilder bis hin zu Comicfiguren und einem 15 Meter hohen Transformer, an dessen Bauch ein Panda klebt.
Bienenstöcke explodieren
Weniger beschaulich geht es zeitgleich in der Yanshui-Region auf Taiwan zu. Dort ist es eine gute Tradition, „Bienenstock“-Knallkörper mitten in der Menschenmenge explodieren zu lassen. Wer dabei nicht mindestens einen Motorradhelm als Schutz trägt, riskiert schwere Gesichtsverletzungen. Und Shifen hat die fliegenden Laternen, an ein paar Festtagen im März fliegen abends Hunderte von ihnen gleichzeitig wie bunte Quallen in den Nachthimmel.
Das Zentrum von Shifen besteht fast nur aus Laternenshops und einigen Fressbuden: Hühnerwürstchen, Trockenobst, Fruchtsäfte. Dazwischen verlaufen Bahngleise, immer wieder müssen die Leute ausweichen, bevor sie ihren Ballon zünden können. Als Souvenirs sind babyfaustgroße Mini-Laternen mit Baumwollbezug und Blumenmotiven im Angebot. „Besonders gut laufen die mit floureszierender Farbe, die im Dunkeln leuchten“, verrät Yuwei Yang, 35, der in einem der Läden arbeitet. „Auf allen steht ein individuell auswählbarer Wunsch nach Geld, Lebensfreude oder Gesundheit. Und die Worte ,Shifen kuaile’. Das bedeutet so viel wie ,zehn Mal Glück’, und gleichzeitig verweist es auf unseren Ortsnamen.“
Probleme für die Umwelt
Eine wichtige Rolle bei der Auswahl des eigenen Talismans spielt auch die Farbe. Rot steht beispielsweise für Gesundheit und Sicherheit, Gelb für Geld, Blau für die Karriere, Orange für Eheglück und Pink für romantische Abenteuer. Einfarbige Ballons kosten 150 Taiwan-Dollar (das sind knapp fünf Euro), vierfarbige 200. Die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft ist ein gutes Geschäft für Shifen.
Reich geworden ist „Grandmas“ Familie trotzdem nicht. Obwohl schon Fernsehteams aus dem Ausland da waren und einer der berühmtesten Filmregisseure des Landes, Hou Hsiao-Hsien, öffentlich seine Liebe zu dem Shop bekannte. „Mein Geld verdiene ich mit dem Verkauf von Computerteilen“, sagt Lin Shih Ming. „Aber die Laternen sind meine Leidenschaft. Ich habe drei Söhne, hoffentlich macht einer von ihnen weiter damit.“
Wenig begeistert ist er von manchen Nachahmern im Dorf, die ihr Handwerk nicht beherrschen. „Inzwischen verkaufen sogar Nudelsuppenrestaurants die Dinger, ohne zu sehr auf Sicherheit und gutes Handwerk zu achten.“ Auch sei die große Zahl der Ballons ein Problem für die Umwelt. „Wir versuchen, möglichst viel zu recyclen. Ich zahle jedem sieben Taiwan-Dollar, der mir die Reste eines Ballons zurückbringt.“
Welchen Wunsch er selbst dieses Jahr aufschreiben wird? „Meine Frau ist im dritten Monat schwanger – ich wünsche mir, dass es mal ein Mädchen wird“, sagt Lin. So ändern sich die Zeiten in Shifen.