Paris. Restaurants in Bahnhöfen haben nicht oft den Ruf, ein Promi-Hotspot und Gourmet-Lokal zu sein. Für den “Train Bleu“ im Pariser Gare de Lyon gilt das aber um so mehr. Einst speisten hier Coco Chanel oder Brigitte Bardot, Rowan Atkinson drehte 2004 in den Räumlichkeiten Teile eines Mr.-Bean-Kinofilms.
Mehr als 220.000 Bahnfahrer wuseln täglich durch den Gare de Lyon in Paris. Eine Etage höher versinkt der Wartende dagegen in dicken roten Ledersesseln, umrahmt von 113 Jahre alten Gemälden. Unten rastloses Rennen, oben gelassene Ruhe mit einem tiefen Schluck Zeitlosigkeit, die um das Jahr 1900 beginnt. Damals, zur Weltausstellung in Paris, wurde nicht nur der Eiffelturm gebaut, auch der Gare de Lyon mit dem prägnanten Uhrturm – ähnlich dem für Big Ben in London – erblickte das Licht der Eisenbahnwelt.
Gourmets speisen im Museum
Mögen unten die Nachtzüge nach Venedig starten. Mögen die TGVs, die französischen Schnellzüge, Richtung Lyon und Marseille losschießen. Mögen die Bahnen mit klingenden Schweizer Namen als Zielort unter dem riesigen Dach des Sackbahnhofs hervorkommen. Oben im „blauen Zug“ klingen die Gläser. „Le Train Bleu“ ist ein weltbekanntes Restaurant für Gourmets. Mehr noch: Wer hier speist, hat den Eindruck, im Museum zu sitzen. 30 Maler schufen 41 Werke, die die Wände zieren. Meist zeigen sie Orte und Regionen, die von hier aus im Zug zu erreichen sind.
„Monsieur, im Raum Algerien ist noch Platz“, ruft der Ober. Die Gruppe Wartender schreitet durch den Goldenen Saal. Elf Meter hoch, mit Lampen, Goldrahmen und Bildern verziert, ist der 18,5 Meter lange Raum ein Prachtstück erster Güte. Wer hier sitzt, speist und trinkt, hat entweder das Gefühl, in eine andere Zeit gefallen zu sein – die des Aufbruchs um die Wende zum 20. Jahrhundert. Oder er denkt, dies könnte die Sixtinische Kapelle im Vatikan sein, in die eine Bar und Tische gestellt wurden. „Allemal schöner als der Louvre“, sagt eine ältere Dame, die den Kopf unentwegt in den Nacken wirft.
Kaffee für elf Euro
In der Big Ben Bar schlägt der Ober „Café Gourmand“ für elf Euro vor. Oben unter der Decke sticht ein Dampfer in See, vermutlich von Marseille aus Richtung Algier. Die dicke schwarze Rauchfahne über dem Deck erinnert an die kohlendioxidreiche Antriebstechnik jener Jahre, die sich noch mit Stolz vermischte. Dann fällt der Blick auf die Horizontale. Die geschickt angeordneten Spiegel in diesem Saal verleihen – ähnlich wie ein Blick auf Bahngleise – den Eindruck von Unendlichkeit. Wer hineinschaut, verliert sich irgendwo hinten in der Unschärfe. Noch bevor das Parkett am Boden gewürdigt werden kann, ist der Ober wieder da und erzählt etwas vom Train Bleu. Das war ein Luxuszug, der ab 1922 von Calais über Paris bis zur Riviera fuhr. Das Feinschmeckerlokal vermittelt also den Eindruck, in einem überdimensionalen Speisewagen zu sitzen. Das Ziel hat der Gast in Form von großflächigen Gemälden vor Augen. Es geht ohne Halt und schüttelfrei voran. Es klappt. Wer hier speist, möchte niemals ankommen oder besser noch – niemals abfahren. Es ist einer der wenigen Orte auf der Welt, wo der Bahnreisende für jede Zugverspätung dankbar ist. Viele der rund 500 Mahlzeiten, die täglich serviert werden, gehen auch gar nicht an Bahnfahrer, sondern an Gourmets, die sich im Gare de Lyon zum Essen verabreden.
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Wer genau hinschaut, entdeckt oft Prominente. Früher waren das Salvador Dalí oder Brigitte Bardot. Auch Coco Chanel aß hier mit Vorliebe. Später kam dann Mr. Bean. Der englische Komiker drehte 2007 Teile seiner Komödie „Mr. Bean macht Ferien“ in den Hallen des Restaurants. In der Szene, die im Le Train Bleu spielt, isst Rowan Atkinson – so heißt der Schauspieler – Meeresfrüchte mit Schale. Die Ober, dezent wie weltläufig, werden derweil unter die schöne Decke geschaut haben. Es lohnt sich immer.
Der blaue Zug liefert den Stoff für Träume
Cassis ist etwas versteckt in der Ecke porträtiert. Diese Kleinstadt östlich von Marseille am Mittelmeer ist auch heute noch ein begehrtes Ziel der Urlauber. Entweder per Linienschiff, Fischer- oder Segelboot legen die Menschen vom idyllischen Hafen zur Fahrt in die nahen Calanques ab. Die lieblichen fjordähnlichen Buchten im Kalkstein sind schon immer Motive für Maler gewesen. Heute bannt eine Armada von Touristen das Fleckchen Küste auf Millionen von Speicherkarten in Foto- und Videoapparaten. Das grün-blaue Wasser lockt zum Baden. Die engen Pfade mit den grandiosen Ausblicken sind ein Magnet für jeden, der sich wenigsten ein paar Schritte in die Natur wagen mag. Stopp. Ende der Träume – dies ist schließlich nur ein Abbild der Wirklichkeit. Es ist das Ziel, denn immerhin fährt der TGV bis Marseille – und der Nahverkehrszug bummelt bis Cassis.
So liefert Le Train Bleu den Stoff für viele Träume vom Reisen. Selbst wer davor Angst hat oder kein Budget dafür, findet in den Sälen das optimale optische Angebot. Und für die anderen beginnt die Reise wie immer zunächst im Kopf. Die nächsten Schritte folgen – die Treppe mit dem jugendstilverzierten Geländer hinab, die Hände fest auf dem goldenen Handlauf und dann Eintauchen in den Trubel der 220 000 Reisenden da unten. Bon voyage!