Wenn früher in den Bergen die Flocken fielen, schlug die Stunde der Schneemänner – Reise in die Zeit vor den Kühlschränken

In der Nacht ist ordentlich Schnee gefallen. Der Puig d´en Galileu im Tramuntana-Gebirge ist ganz weiß. Die Brüder Xisco und Joan, elf und zwölf Jahre alt, wohnen im zehn Kilometer entfernt gelegenen Bergdorf Caïmari. Heute ist ihr Tag! Sie werden in die Berge steigen, dort Schnee sammeln und Geld verdienen! Während die Familie noch am Feuer sitzt, ziehen die Jungen schon los. Zusammen mit Gleichaltrigen und einem Erwachsenen steigen sie den Berg hoch bis zum „Casa de neu”, dem Schneehaus, und verstauen ihren Proviant: Sardinen und ein bisschen Fleisch. Zwei, drei Wochen werden sie nun hier oben leben und Schnee schaufeln.

So ähnlich muss es gewesen sein bei den „nevaters”, den Schneemännern Mallorcas, erinnert sich Pep Estelrich, Pfarrer im Ruhestand, der noch mit den letzten dieser Zunft auf Bergtour ging. Mit einem der Schneemänner hatte Pfarrer Estelrich damals ein Interview geführt. Er erzählt, dass die zehn- bis zwölfjährigen Schneemänner gut miteinander auskamen, und dass jeder eine feste Rolle hatte: So ernannten sie zum Beispiel einen von sich zum Pfarrer, einer war Bürgermeister und einer Richter. Und wenn sie sich stritten, musste der Richter schlichten und eine Lösung finden.

In den Bergen der Tramuntana, im Nordwesten Mallorcas, befinden sich immer noch um die 20 Schneehäuser. Um das Erbe zu bewahren, wird etwa das Schneehaus am Puig d`en Galileu zurzeit vom mallorquinischen Umweltministerium renoviert.

Pep Estelrich fühlt sich nicht mehr kräftig genug, um den Aufstieg zu wagen, aber sein Bekannter Lorenzo Pasqual führt Gäste gern in die Berge. Die Wanderung ist anstrengend, doch die mühevolle Tour auf den 1181 Meter hoch gelegenen Gipfel lohnt sich. Karg ist es hier oben und es weht ein frostiger Wind, aber der Blick schweift aufs Meer. Für Bergführer Lorenzo ist es der schönste Platz auf der Welt.

Das Schneehaus befindet sich etwas unterhalb des Gipfels. Die Grundmauern und eine Wand, die das Haus teilte, stehen wieder. Deutlich sind Vorsprünge in der Mauer zu erkennen, vermutlich Ablagen für die Habseligkeiten der Schneemänner. Der größere Teil des Hauses diente als Schlafplatz, und im kleineren wurden die Maulesel untergebracht.

Im Abstand von einigen Metern zum Wohnhaus der Schneemänner geht es plötzlich steil hinunter, in eine riesige, fünf Meter tiefe Grube. Eine Mauer aus Natursteinen stützt die Wände. Dort unten lagerten die Nevaters den Schnee. Hatten sie eine Schicht aufgeschaufelt, legten sie „carritx”, ein Gras mit sehr dicken Halmen darauf und stampften das Ganze platt. Dabei sangen sie „pitgen sa neu”, „wir stampfen den Schnee”, erzählt Pep Estelrich, und singt und klatscht.

Wenn die Grube voll war, fasste sie rund 85 000 Kilogramm Schnee. Die starke Last drückte den Schnee zusammen, bis er zu Eis wurde. Das Eis war so gut isoliert, sodass es sich bis in den Sommer hielt, wenn die Schneemänner längst wieder ihren Eltern auf dem Feld halfen.

Im Frühjahr kamen dann erwachsene Arbeiter, schnitten das Eis in sogenannte Schneebrote, „pans de neu”, und transportierten es auf Mauleseln und Kutschen nach Palma, bis zu den Eisdielen, in denen auch der österreichische Erzherzog Ludwig Salvator gern zu Gast war. In seinem Standardwerk „Die Balearen in Wort und Bild”, schrieb er, dass die Menschen im Sommer gerne in den Cafés „Gefrorenes”, Süßspeisen aus Mandeln, Milch und dem Eis der „Schneehütten”, aßen. Ein Pfund Eis kostete bis zu einem halben Tageslohn. Trotzdem leisteten es sich auch arme Leute, um eine fiebernde Stirn zu kühlen und Verbrennungen zu lindern. Das Eis war begehrt, und wenn mal kein Schnee fiel, wurde es aus Barcelona eingeschifft. So auch im Jahr 1719, als die Hälfte des Eises schon während der Überfahrt schmolz, und fast der gesamte Rest beim Verkauf im Hafen Palmas.




Auf Mallorca selbst gelang es aber, das kostbare Gut gefroren über die Insel zu fahren, obwohl ein Kutscher fünfzehn Stunden dafür brauchte, denn die Fracht wurde nachts, wenn es kühler war, transportiert. Eine Lieferadresse für das Eis war auch das Kloster St. Jeronimo in Palma. Hinter dicken Mauern lebten noch bis vor ein paar Jahrzehnten siebzig Ordensschwestern. Auf der ehemaligen Krankenstation zeigt Oberin Maria Pons, die heutige Leiterin des Klosters, auf den „refrescador”, den „Erfrischer”, der beim Öffnen laut knarzt:

„In dieser antiken Holztruhe war wohl eine Metallschicht, damit man das Eis länger aufbewahren konnte,” beschreibt die Klosterchefin.

Über drei Jahrhunderte blühte das Geschäft mit dem Schnee. Besitzer der Fincas in den Bergen waren sogar per Gesetz dazu verpflichtet, den Schnee sammeln und lagern zu lassen, bis im Jahre 1927 die Zeit der Schneemänner endete: Eine Maschine, die Eis produzierte, ging in Palma de Mallorca in Betrieb.