Ruhrgebiet.. Was tun, wenn das Kind zappelt? Viele schwören bei AD(H)S auf Pillen. Falsch, sagt Prof. Gerald Hüther. Der Hirnforscher, bekannt durch sein Alm-Projekt, setzt auf Disziplin. Etwa 500 000 Kindern leiden unter ADHS - das ist damit die wohl häufigste psychische Störung im Kindesalter.
Robin ist zehn Jahre alt. Er kann keinen Moment still sein. Draußen merkt man das weniger. Aber drinnen. Mutter und Lehrer verzweifeln. „Seine Lehrerin gab mir den Rat, dass Robin diese Tabletten nehmen sollte. Sie hätten schon einigen in der Klasse geholfen“, erzählt Mutter Madeleine T. aus Duisburg. „Aber ich geb’ dem Jungen doch keine Psycho-Pille.“
Madeleine (27) aus Duisburg ging mit Robin zum Arzt. „Er ist ein Zappelphilipp“, hieß es. So nennt man umgangssprachlich ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) – eine Störung, die zur Modeerkrankung geworden ist.
Kinder mit ADHS werden oft mit Ritalin behandelt
Robin ist eins von etwa von etwa 500 000 Kindern, die unter ADHS leiden, die wohl häufigste psychische Störung im Kindesalter. Immer öfter therapiert mit dem Wirkstoff Methylphenidat, besser bekannt zum Beispiel unter dem Namen eines der Präparate – Ritalin. Ein Stoff, der vor allem bei Ärzten und Eltern Emotionen auslöst: Für die einen ist es eine Wunderdroge, für die anderen Teufelszeug.
Kritiker sprechen von Hirndoping, davon, dass die Nebenwirkungen des Wirkstoffs, der unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und als psychisches Stimulanz gilt, nicht ausreichend getestet seien. Und schon die Wirkungen seien so einschneidend und führten zu einer Veränderung der Persönlichkeit.
Streit um die Pille als Behandlungsmethode
Dr. Arne Schmidt aus der Herdecker Praxisgemeinschaft für Kinder-, Jugendpsychiatrie und Anthroposophische Medizin setzt auf eine mehrschichtige Therapie – zum Beispiel mit Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Elterntherapie. In manchen Fällen aber, vor allem, wenn akuter Handlungsbedarf besteht, seien „die Tabletten oft ein Segen“. Er hält nicht viel von einer pauschalen Verurteilung der Pille. Oft gebe es trotz umfangreicher Tests keine hundertprozentig bewiesene Diagnose, „weil es keinen Motorprüfstand für Kinder gibt“. Wenn die Not groß sei, rate er nach individueller Abwägung dennoch zu dem Medikament.
Für Hirnforscher Prof. Gerald Hüther aus Göttingen, ist manches Überdosierung nach dem Gießkannenprinzip. „Keiner weiß genau, wie ADHS entsteht. Die Theorien dazu sind veraltet. Trotzdem gibt man die Medikamente, ohne zu wissen, warum sie wirken und vor allem, ohne zu wissen, welche Langzeitwirkung sie haben.“
Eltern befinden sich in der Zwickmühle. Der Alltag mit einem hyperaktiven Kind überfordert oft alle Beteiligten: Kind, Eltern, Lehrer. „Ich kenne aber keinen, der seinem Kind leichtfertig die Mittel gibt, aber manchmal sind sie erforderlich“, sagt Karin Knudsen (63), seit zehn Jahren Leiterin zweier Selbsthilfegruppen für ADHS in Köln. Auch bei einem ihrer Söhne wurde ADHS diagnostiziert, beim anderen ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom).
In der Schule zählt nur die Leistung
Der eine ließ die Sau raus, der andere kam nicht in die Gänge. Die Schule: Chaos pur. Und sie, die Mutter, saß abends mit einem Nervenzusammenbruch im Sofa. Naturheilkundliches half nicht. Da entschied sie sich für die Pille. „Eine unglaubliche Hilfe.“
Hirnforscher Hüther ist auch Berater der Bundesregierung für „die Zukunft des Lernens“. Für ihn ist ADHS keine Sache, die sich im Kopf abspielt, sondern in den Schulen. „Es ist kein Vorwurf an die Lehrer, sondern an ein Schulsystem, das wie eine Erbsensortiermaschine funktioniert. Die kleinen werden liegen gelassen.“ Nur Leistung zähle. „Mit der Pille nimmt man den Kleinen das Wesentliche ihrer Kindheit – die Begeisterung.“
Jonas zum Beispiel. Nachdem er das Medikament bekam, hat er zwar nicht mehr gegen die Klassentür getreten, aber, so die Mutter: „Früher hat er sich über einen Schmetterling gefreut, jetzt guckt er den gar nicht mehr an.“ Was ist besser?
Zu viel Fernsehen, zu oft am Computer
Auf die Frage, warum ein Kind ADHS entwickelt, gibt es nicht immer eine schlüssige Antwort. Es sei zum Teil erblich bedingt. Und auch das: Eltern von ADHS-Kindern hätten es schwerer als andere, klare Strukturen zu schaffen, die gerade diese Kinder besonders bräuchten, sagt Kinderarzt Arne Schmidt. Zu viel Fernsehen, zu oft am Computer – das fördere die Auffälligkeiten. Aber die Ursache sei es nicht.
Hüther, der bekannt wurde durch sein Alm-Projekt, als er ADHS-Kindern mitten im Gebirge das Leben bewältigen ließ, setzt auf Disziplin. Aber nicht auf stures Regelbefolgen, sondern auf eine Disziplin, die einen Nutzen bringe. „Selbst hyperaktive Kinder lernen sehr schnell, dass die Kuh erst dann aufhört zu blöken, wenn sie gemolken ist.“ Statt Kinder vor dem Fernseher zu parken, sollte man sich mit ihnen beschäftigen. Klingt selbstverständlich, sei es aber nicht.
Folgen bei Pillen-Absetzung können gravierend sein
Eltern wie Ruth und Hans-Jörg – beide Lehrer in Recklinghausen – können über so etwas nur lachen. Sie hätten alles gemacht. Dem Kind vorgelesen, mit dem Kind Baumhäuser gebaut – ihr Junge wurde zwar nicht hyperaktiv, aber ein Träumer. Zur Schule wollte er nicht. „Die verstehen mich da nicht“, habe er gesagt. Überall sei er angeeckt. Leistung: „Katastrophe. Dabei war er clever. Aber er konnte sich nicht konzentrieren.“ Für alle in der Familie, so sagt die Mutter, war die Pille die Rettung.
Viele Eltern sehen das so. Schwierig wurde es aber dennoch oft, wenn die Mittel abgesetzt wurden. Berufsschullehrer Hubert D. aus Wesel berichtet von Jugendlichen, „die dann komplett ausrasten“.
Probleme mit Appetit und dem Wachstum
Bekannte Nebenwirkungen des Medikaments sind Wachstumsverzögerungen und Appetitlosigkeit. Reinhard M., Leiter einer Reinigungsfirma am Niederrhein, sagt: „Seitdem unser Neunjähriger die Pille nimmt, isst er tagsüber nichts. Abends haut er sich alles rein. Und mit neun ist er so groß wie seine Schwester mit sechs. Er fühlt sich total unwohl.“ Am liebsten wäre es ihm, wenn er keine Pillen nähme. „Aber dann ruft wieder jeden Tag die Schule an.“
Als ihm die Lehrerin gesagt hätte, dass sein Sohn jetzt ein Musterschüler sei, nein – er war nicht froh. „Denn darum geht es uns doch gar nicht.“