Berlin. Die Therapie über das Internet ist in Deutschland bislang nur zu Forschungszwecken erlaubt. Trotzdem werden Hilfesuchende im Netz leicht fündig. Bei vielen Experten stoßen die Angebote auf Skepsis und Misstrauen. Der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient sei durch nichts zu ersetzen.
Professor Anette Kersting hat einen Teil ihrer Patienten noch nie persönlich gesehen. Die Behandlung der Traumatisierten erfolgt ausschließlich per Mail. Trotzdem sind die Patienten sehr zufrieden. "Der Effekt der Behandlung war sehr groß", sagt die Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig. Kersting und ihr Team erproben Internettherapien bei verschiedenen psychischen Störungen wie Posttraumatischen Belastungsstörungen, Kriegstraumata und Trauer.
Die virtuelle Arztpraxis ist in Deutschland bislang nur zu Forschungszwecken erlaubt. Trotzdem werden Hilfesuchende im Netz leicht fündig. Experten warnen allerdings, dass der persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient durch nichts zu ersetzen ist.
Rund 200 Mütter oder Väter, die wegen einer Fehlgeburt trauern, haben sich bei Kersting und ihrem Team fünf Wochen lang auf die virtuelle Couch gesetzt und über ihre Trauer geschrieben. "Die Therapie beschränkt sich ausschließlich auf den Internetverkehr", sagt Kersting. In drei Behandlungsphasen schreiben die Eltern ausführlich nieder, was sie bewegt. Die Antwort des Therapeuten kommt innerhalb der nächsten 24 Stunden.
Wirksamkeit wurde in mehreren Studien nachgewiesen
"Die Auswertung des Projektes hat erbracht, dass die Eltern trotz des fehlenden persönlichen Kontaktes großes Vertrauen in ihren Therapeuten hatten und sich selbst drei Monate nach Therapieende deutlich besser fühlen", erklärt Kersting. "Vielleicht öffnen sie sich in Briefen sogar mehr als sie es in persönlichen Gesprächen getan hätten."
Die Leipziger Forscher nutzen eine seit Jahren in den Niederlanden erfolgreich praktizierte und dort von den Kassen finanzierte Internettherapie "interapy.nl". Tausende Patienten mit Posttraumatischen Belastungsstörungen, Burnout und Depressionen haben sich nach Angaben von Therapiebegründer Professor Alfred Lange bislang online behandeln lassen. Die Wirksamkeit wurde in mehreren Studien nachgewiesen. Die Kosten sind den Angaben zufolge gering und liegen zum Teil nur bei einem Drittel der Kosten für eine herkömmliche Therapie. Zudem ist die Behandlung intensiver und kürzer.
Cyber-Therapie für Menschen mit Essstörungen
In Leipzig läuft jetzt eine weitere Cyber-Therapie für Menschen mit Essstörungen an. Die Angebote können Betroffene aus dem gesamten deutschsprachigen Raum nutzen, sagt Kersting. Sie sind gedacht für Menschen, die nicht weit zum Therapeuten fahren wollen oder können, die wenig Zeit haben oder sich aus Scham nicht zum Arzt trauen. Doch genommen wird nicht jeder. Wer unter schweren Depressionen und Selbstmordgedanken leidet, Alkohol- und Drogenprobleme hat und bereits in psychotherapeutischer Behandlung ist, muss direkte Hilfe in Anspruch nehmen.
Bei der Auswahl ihrer Patienten verlassen sich die Forscher auf international genormte Diagnosebögen. Im Leipziger Essstörungsprojekt beispielsweise ist rund ein Drittel der Bewerber für die Therapie nicht geeignet. Im Leipziger Trauerprojekt sind zudem von den 240 angenommenen Patienten 40 während der Therapie ausgestiegen. Ob Lebenskrise, Mobbing oder Traumata - im Netz mangelt es nicht an kostenpflichtigen Angeboten. Was auf den ersten Blick als Beratung angeboten wird, entpuppt sich häufig als Therapie.
Skepsis bei vielen Experten
"Ganz offensichtlich sollen Schwierigkeiten mit der ärztlichen Berufsordnung", nach der bei Krankheiten die persönliche Untersuchung durch einen Arzt notwendig ist, "umgangen werden", schreibt der Kölner Autor Rupert Martin. So können Hilfesuchende bei einer Düsseldorfer Gynäkologin unter "psychotherapie-net" per Mail um "professionelle Online-Beratung" für eine Eingangsgebühr von 10,72 Euro bitten. Für Angst, Depressionen, Mobbing und Beziehungsprobleme fühlt sich ein Wittenbergener Psychotherapeut unter "onlineberatung-therapie.de" zuständig. 40 Euro im voraus kostet eine Mail des Therapeuten. Ein österreichischer Psychotherapeut bietet für 150 Euro im Monat "psychotherapeutische E-Mail-Korrespondenz".
Bei vielen Experten stoßen Internettherapien auf Skepsis und Misstrauen. Sie ist "als Ersatz für reguläre Psychotherapie nur bei bestimmten Verfahren und Methoden denkbar", warnt der Präsident der Psychotherapeutenkammer Hessen, Jürgen Hardt. Die Diagnose beruht allein auf der Selbsteinschätzung des Patienten, bemängelt der Psychologe Martin. "Gerade die nonverbalen Beobachtungen helfen dem Psychotherapeuten, die verbalen Ausführungen des Patienten einzuordnen."
Forschungsbedarf
Eine unzureichende Diagnostik berge das Risiko einer ungeeigneten Behandlung, meint Hardt. Die Unterschiede zwischen "Nicht gut drauf" und einer ernsthaften Depression würden bei der Selbstdiagnose verschwimmen. Zudem bestehe die Gefahr, dass nicht schnell therapeutisch interveniert werden könne, wo es dringend erforderlich sei. Professor Kersting sieht noch viel Forschungsbedarf. So müsse geklärt werden, bei welchen Störungen diese Form der Behandlung geeignet sei und wie lange deren Wirkung anhalte. Außerdem sei festzulegen, wie sich die virtuelle Behandlung im Detail von der ambulanten Form unterscheiden muss. (dapd)