Essen. Ein Hauch von Mafia, der Geist von Al Capone und ein schummriges Dunkel herrschen in ihrer Unterwelt. An der Oberfläche aber ist sie hell, freundlich und weltoffen: Chicago, auch bekannt als “Windy City“, ist die wohl amerikanischste aller amerikanischen Städte. Konkurrenz? Fürchtet sie nicht.
Es ist ein wenig einladender Verschlag, vor dem wir stehen. 111 West Kinzie, Chicago, Illinois. Tony hat uns hierher gefahren, er schaut noch einmal auf die Adresse auf einem Stück Papier. „Hier müsste es eigentlich sein.“
Erwartet hatten wir einen Blues Club. Gut, wie hat man sich das äußere Erscheinungsbild eines Blues Clubs schon konkret vorzustellen? Aber hier wirkt alles verlassen, sich selbst überlassen. Tony ist verwirrt, wir sind es auch. Und nach einem kurzen, man könnte meinen riskanten Blick ins Innenleben des Gemäuers, fragt er unsicher: „Ist das hier überhaupt legal?“
Eine Hommage an die Supper Clubs
Das „Untitled“ – welch’ passender Name, wie uns in diesem Moment aufgeht – ist legal. Es ist eine Hommage an die Lebendigkeit der Supper Clubs und der „Speakeasys“, der Flüsterkneipen zu Zeiten der Prohibition in den 1920er Jahren, als Alkohol in den USA verboten war.
Dieser Charme, dieses Abenteuer wird einem freilich erst offenbar, wenn man sich hinein getraut hat: Eine breite Treppe führt nach unten, hinein in die Unterwelt. Ein riesiges Gewölbe breitet sich schummrig dunkel aus, das warme Licht aus Kerzenschein und Glühbirnen leuchtet den Club nur spärlich aus. Ein schwarz-weißes Al Capone-Gemälde entführt einen endgültig in die längst vergangenen Zeiten des mafiösen Verbrechens, mit dem gerade Chicago immer gerne in Verbindung gebracht wird – „Al“ sei Dank. Fehlt eigentlich nur noch das Rattern der Maschinengewehre.
Ziel für "arme Teufel"
Im Untitled und in unzähligen Clubs der „Windy City“, wie Chicago auch genannt wird, ist die Geschichte zu Hause. Und der Blues. Jene Musik, die sich in der afroamerikanischen Gesellschaft der USA im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Chicago könnte ein Ziel gewesen sein für „die armen Teufel“ in Quentin Tarantinos Sklavenepos „Django Unchained“, die Dr. King Schultz, Kopfgeldjäger und Gegner der Sklaverei – und damit höchst ambivalente Figur des Films – aus der Hand von Menschenhändlern befreit. Kurz vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs war das, irgendwo tief im Süden, der so eng mit der Sklaverei verknüpft war. Schultz – dargestellt vom auch für diese Rolle oscarprämierten Christoph Waltz – empfiehlt ihnen, sich auf den Weg zu machen in eine „aufgeklärtere Gegend der Vereinigten Staaten“.
Gesagt, getan. Und sie brachten ihre Musik mit in den Norden, die auch in Chicago eine neue Heimat gefunden und rund 150 Jahre überdauert hat. Mehr noch: Chicago lebt den Blues. Die Bars sind voll, und so natürlich auch das Untitled. Gebannt lauscht das Publikum an diesem Abend Gerald McClendan und seiner Band, die von Freiheit und Liebe erzählen und der Sehnsucht nach beidem.
Hell, freundlich, weltoffen
Aufgetaucht aus der Unterwelt ist Al Capone, sind die Speakeasys weit weg. Oben an der Oberfläche ist die „Windy City“ hell, freundlich, weltoffen – und windig. Mit einer Skyline, die eine Seele zu haben scheint. Durchzogen vom Chicago River. Zusammengesetzt aus Wolkenkratzern aus ganz unterschiedlichen Epochen, die dennoch miteinander harmonieren.
Chicago sieht sich selbst gerne als die „amerikanischste aller amerikanischen Städte“ und stellt sich so ganz bewusst der Konkurrenz aus New York oder San Francisco.
Lake Michigan versus Atlantik und Pazifik
Die einen haben den Atlantik, die anderen den Pazifik. Chicago hat den Lake Michigan, an dessen Ufer sich die Stadt über viele Meilen schmiegt. Badestrände inklusive. Geshoppt wird auf der Magnificent Mile oder im Downtown-Bezirk The Loop. Entspannt im Millennium Park, der Kultur gefrönt in Museen und Theatern, wie der „Second City“: Eine Comedybühne, wo herzhaft gelacht wird, Hollywood-Größen wie Bill Murray, James Belushi oder auch Dan Aykroyd ihre Sporen verdient haben. Sport geschaut wird auf dem Wrigley oder Soldier Field: Cubs, White Sox oder Bears – Baseball oder Football. Chicago hat einfach alles. Auch den frisch gebackenen Stanley Cup-Sieger: das Eishockey-Team der Chicago Blackhawks.
Und nach wie vor einen der höchsten Wolkenkratzer der Welt: den Willis Tower. Die allermeisten Menschen in Chicago nennen den Turm immer noch „ihren Sears“. So hieß der Tower, bevor die Namensrechte an eine Versicherungsgesellschaft übergingen. 527,3 Meter ist er hoch (bis zur Antennenspitze) und bietet auf gut 400 Metern einen Ausblick, der seinesgleichen sucht. Wer möchte, der kann sich einem ganz besonderen Abenteuer stellen: Die Aussichtsetage „Skydeck“ – Stockwerk 103 – wartet mit an die Turmfassade montierten geschlossenen Glasbalkonen auf: The Ledge. Unter den Füßen das Nichts, der Blick geht gnadenlose 412 Meter steil nach unten.
Atemberaubender Blick
Nur müssen die Beine erst einmal halten. Denn die wackeln bedenklich, tritt man so hoch oben auf das Glas. Randal Stancik führt die Menschen auf das Skydeck und durch den Turm, der wie eine Kleinstadt wirkt. Geschäftig. Wuselig. Viele Leute mit „Coffee to go-Bechern“ in der Hand. Amerikanisch eben. Stancik beichtet: „Ich war bei den Planungen von The Ledge dabei. Bei der Konstruktion, ich stand Tausende Male auf diesen Balkonen. Ich weiß, dass es sicher ist, aber meine Knie werden noch immer weich.“
Aber Kopf und Körper gewöhnen sich schnell an die ungewohnte Position neben dem Turm und die somit einmalige Perspektive. Der Rest ist ein atemberaubender Blick über eine aufregende Weltstadt, die einem in diesem Moment buchstäblich zu Füßen liegt. Und unten rattern keine Maschinengewehre mehr. Es rattert nur noch die Chicago Elevated, die berühmte Hochbahn der Stadt.