Essen.. Sexualität bei Älteren gilt als Tabu. Dabei kommt es in Heimen häufig zu Konflikten, wenn Menschen mit Demenz ihre Bedürfnisse ohne Selbstkontrolle ausleben. Sie fassen unvermittelt Pfleger an, ziehen sich aus oder suchen Körperkontakt mit Fremden. Pflegende und Angehörige sind oft hilflos.

Hans H. (Name geändert) liegt mit einer fremden Frau im Bett. Sie wohnen zufällig in dem selben Pflegeheim und sind beide jenseits der 75. Jeder wünscht sich körperliche Nähe. Deshalb verständigen sie sich darauf, ihre Sehnsüchte gemeinsam auszuleben. Bei jeder dieser Begegnungen lernen sich Hans H. und seine Heimbekanntschaft aufs Neue kennen. Sie leiden unter Demenz, das Vergessen regiert ihre Körper. Hans weiß obendrein nicht, dass er verheiratet ist – und dass seine zu Hause lebende Ehefrau jederzeit in dem Heim auftauchen könnte, um ihn zu besuchen.

Hilfe gibt es kaum

Liebe im Alter. Sie hat nichts mit jungen, schönen Körpern zu tun. Vielleicht wird deshalb nicht gerne drüber gesprochen. Doch wenn ein Mensch zum Pflegefall wird und Körper und Geist nicht mehr kontrollieren kann, ist das Bedürfnis nach Sexualität nicht unbedingt erloschen. Im Gegenteil. Eine Krankheit wie die Demenz kann je nach Ausprägung dazu führen, dass Betroffene ihre Lust nun ganz ungehemmt zeigen. Da reagiert ein Zeit seines Lebens zurückhaltender, diskreter Mensch im hohen Alter plötzlich enthemmt. Er fasst die Pflegerin unvermittelt an oder zieht sich aus und sucht Körperkontakt zu Fremden. Die Demenz saugt die Kontrolle aus dem Körper.

Seniorenexperten: Die Leiterin des Seniorenstifts Haus Berge, Marita Neumann, und der Geschäftsführer des Pflegedienstleisters Contilia, Thomas Behler.
Seniorenexperten: Die Leiterin des Seniorenstifts Haus Berge, Marita Neumann, und der Geschäftsführer des Pflegedienstleisters Contilia, Thomas Behler. © Volker Hartmann | Unbekannt

Marita Neumann bekommt es ständig mit diesem sensiblen Thema zu tun. Sie ist Leiterin des Essener Seniorenstifts Haus Berge, einer Einrichtung, die sich als eines von wenigen Häusern in Nordrhein-Westfalen ausschließlich auf die Betreuung Demenzkranker spezialisiert hat. „Wenn der Verstand schwindet, findet die Kommunikation über Körperlichkeit statt“, sagt sie. Die Kraft des Fühlens bleibe erhalten. Und die des Genießens. Sei es nun das Stück Sahnetorte, das so herrlich auf der Zunge zergeht – oder die Streicheleinheit.

Die demente Mutter zieht sich aus und läuft nackt aus dem Haus

Oft wird sie von verunsicherten, irritierten Angehörigen oder von Mitarbeitern um Rat gebeten. „Es ist wichtig, offen und sachlich über das Thema Sexualität zu sprechen. So schwer es manchem auch fällt. Man sollte den Betroffenen ihr Bedürfnis nach Nähe gönnen. Demente Menschen sollten sich wohlfühlen“, sagt die erfahrene Seniorenexpertin.

Wie sag ich’s meinem Kinde? – Gerade enge Verwandte kommen mit der neuen Situation nicht leicht zurecht. Vor allem, wenn sie zu Hause pflegen. Weil sie ihre Eltern so nicht kennen, weil sie nicht wissen, wie sie auf die Persönlichkeitsveränderung reagieren sollen, weil sie überrumpelt werden. „Wenn die demente Mutter sich plötzlich auszieht und aus dem Haus läuft, kann das peinlich werden vor den Nachbarn.“ Ein Beispiel, das Thomas Behler aus der Praxis kennt. Behler ist Geschäftsführer des Bereichs „Pflege und Betreuung“ der Essener Contilia Gruppe, zu der elf Senioreneinrichtungen gehören. Im Vorteil seien womöglich Familien, in denen immer offen mit dem Thema Sexualität umgegangen wurde, vermutet er. Und erinnert sich an diesen ganz speziellen Fall: „Ein Mann um die 70, körperlich noch sehr aktiv, aber schwer dement. Die Angehörigen haben in seinem Pflegeheim gebeten, dass er ab und zu in ein Bordell gefahren werden solle.“

SeniorenPfleger stoßen an ihre Grenzen

„Viele Menschen möchten aber einfach nur drücken, küssen oder in den Arm genommen werden“, sagt Seniorenstiftleiterin Marita Neumann und spricht genau darüber regelmäßig mit ihrem Personal. Denn auch erfahrene Pfleger geraten an ihre Grenzen, wenn ein alter Mensch spontan nicht mehr von ihnen lassen mag. Wie weit darf es gehen? Was lässt man sich gefallen? „Da muss jeder sein persönliches Limit kennen.“

Pflegenden Angehörigen raten Marita Neumann und Thomas Behler, sich mit anderen auszutauschen – vielleicht in einer Selbsthilfegruppe (Suchtipp: www.selbsthilfenetz.de, Stichwort „Demenz“ in die Suchmaske eintragen). Sie beobachten mit leiser Hoffnung, dass die Sexualität im Alter langsam, ganz langsam ihr Tabu verliert. „Einmal wegen des demografischen Wandels. Man kommt an diesem Thema nicht mehr vorbei. Aber auch aufgrund von Spielfilmen wie ,Wolke 9’, in denen es um Sex und Liebe jenseits der 70 geht“, so Behler.

Die Ehefrau ist eingeweiht

Die Ehefrau von Hans H. weiß übrigens längst, dass ihr Mann im Heim mit einer anderen Frau Zärtlichkeiten austauscht, während sie in der einst gemeinsamen Wohnung lebt. Sie hat gelernt, damit umzugehen, denn er ist krank, demenzkrank. Sie sagt sich, dass ihr Mann glaubt, die andere Frau sei sie.