Rügen. Das Biosphärenreservat Südost-Rügen schützt eine Landschaft, die es in Norddeutschland kein zweites Mal gibt.
Malerischer geht es kaum. Ostwärts der weißen Residenzstadt Putbus säumen alte Alleen teils noch Straßen mit Kopfsteinpflaster. Durch die Buchenwälder der Granitz schnauft der Rasende Roland, die älteste deutsche Schmalspurbahn. Am Boddenufer reihen sich winzige Dörfer mit reetgedeckten Häusern und Obstgärten aneinander. Und vis-à-vis komplettiert die Insel Vilm das Idyll, deren Märchenwald gerade mal 30 Personen pro Tag betreten dürfen.
„Was Sie heute sehen werden, ist eine Landschaft, wie es sie im gesamten norddeutschen Küstenraum kein zweites Mal gibt“, stachelt Biologe Stefan Woidig gleich zu Beginn der Exkursion meine Neugier an. Er hat die Kirche von Groß Zicker auf dem Mönchgut zum Startpunkt auserkoren; von hier aus lässt sich ein besonders attraktiver Teil von Rügens Südost-Zipfel in drei bis vier Stunden auf einem Rundweg erwandern.
Sagenhafter Schatz an Märchen und Geschichten
Das gotische Backstein-Juwel wurde um 1360 erbaut und ist damit das älteste Gebäude auf dem Mönchgut. Dieses gehörte in jener Zeit den Zisterziensern des Klosters Eldena bei Greifswald – über den Bodden gerade mal 27 Kilometer Luftlinie entfernt, auf dem Landweg sind es fast hundert. Randlage und Abgeschiedenheit prägten das Mönchgut schon damals. Das blieb auch fortan so und brachte Kultur und Traditionen hervor, wie es sie nirgendwo sonst auf Rügen gibt. Einen sagenhaften Schatz an Märchen und Geschichten etwa.
Auftakt-Spaziergang durch Groß Zicker. Das Bauern- und Fischerdorf steht unter Denkmalschutz. Niedrige Häuser mit bunten Türen, wuchtigen Reetdächern und prächtigen Bauern-gärten sorgen für eine altertümliche Atmosphäre. Besonders schön ist das Pfarrwitwenhaus aus dem frühen 18. Jahrhundert mit seinem „Zuckerhut“-Dach.
Dann wird es kurzzeitig steil. Über eine Wiese steigen wir auf zum Gipfelkamm der Zicker`schen Alpen – so nennen sie hier liebevoll die sanfte Hügelkette, auf der es von Frühjahr bis Herbst grünt und blüht, dass einem schier die Sinne vergehen. Lila Blumenteppiche überziehen die Kuppen, dann übernehmen Mohn und Kornblumen das Kommando und wetteifern leuchtend um die Gunst des Betrachters. Und dazu ein Panorama-As nach dem anderen: Ganz Südost-Rügen liegt einem hier zu Füßen – mitsamt Ostsee und Boddenlandschaft.
Wind und Wellen verpassen der Landschaft den Feinschliff
Zeit zum Verschnaufen, Zeit zum Erzählen. „All das wurde von den Gletschern der Weichselkaltzeit vor 10 000 Jahren modelliert“, berichtet Woidig. Dann verpassten Wind und Wellen dem Landstrich seinen Feinschliff und hinterließen höchst eigenwillige Spuren. Land und Meer etwa sind tief ineinander verzahnt, formen Haken, bilden Nehrungen. Hier gibt es Halbinseln und Landzungen, Bodden und Wieken, Flach- und Steilküsten, Block- und Sandstrände, Salzwiesen und Niedermoore und seltsame Sachen wie Geschiebemergelkliffs und Kliffranddünen – manches davon werden wir später aus der Nähe sehen.
Zunächst aber liegt Stefan Woidig ein anderes Thema am Herzen. Denn als Teil des Biosphärenreservates Südost-Rügen steht das Mönchgut seit 1990 unter besonderer Obhut: Eingebunden in das Unesco-Programm „Der Mensch und die Biosphäre“ geht es um die nachhaltige Nutzung der historischen Kulturlandschaft – mit Mensch und Natur in Einheit und im Einklang. So wie das früher einmal war.
Erbitterte Kämpfe der Pflanzen um Standort und Wasser
Für einen Profi wie ihn ist das Mönchgut aber auch deshalb ein Glücksfall, weil hier viele Pflanzen gedeihen, die eigentlich woanders zu Hause sind. Und so referiert er über den bunt blühenden Trockenrasen, der von Frühjahr bis Herbst die Hügel überzieht. Erzählt von den erbitterten Kämpfen der Pflanzen um Standort und Wasser, „die unter der Erde notfalls sogar mit chemischer Kriegsführung ausgefochten werden“. Und präsentiert Raritäten: Berg-Haarstrang und Zahnwurz. Klappertopf und Silbergras. Schwalbenwurz und Ochsenzunge, die beide auf der Roten Liste stehen.
Ganz nebenbei begegnen wir auf Schritt und Tritt den wichtigsten Mönchguter Landschaftspflegern. Es sind mehrere Dutzend Rauwollige Pommersche Landschafe, von denen Stefan Woidig in den höchsten Tönen schwärmt. Sind sie doch unverzichtbar für eine Kulturlandschaft, wie sie vor der industriellen Landwirtschaft einmal existierte. Als Mensch und Natur noch überall im Einklang lebten. So wie es jetzt auch hier wieder sein soll. Im Biosphärenreservat Südost-Rügen.