Edinburgh. Eigentlich ist die schottische Hauptstadt eine eher verschlafene Stadt, doch im August dreht Edinburgh auf. Dann ist die Stadt im Ausnahmezustand, denn gleich sechs Festivals halten die Menschen in Atem. Es gibt kaum jemanden, der sich dem bunten Treiben entziehen kann.
Der ältere Herr schaut verwundert auf die lange Schlange vor ihm. "Diese Leute haben wohl noch keine Tickets", sagt der distinguiert aussehende Schotte im sandfarbenen Tweedjackett. Seine Begleitung müht sich indes einen der vielen Hügel hinauf, die Edinburgh prägen. Angekommen an der Assembly Hall erwartet die beiden Kunstfreunde ein Bild, mit dem sie offenbar nicht gerechnet haben: Hunderte Menschen warten vor der Tür, sie schlängeln sich an der Straße entlang und warten auf Einlass.
Der ältere Herr allerdings irrt: Alle Wartenden haben eine Eintrittskarte und sind sogar schon kontrolliert worden. Das teilt ihm eine der zahlreichen Helferinnen im roten T-Shirt mit, als sich das Paar ganz vorne einreihen will. Ob Krawatte oder Jeans - gewartet wird hinten.
Eine Stadt im Ausnahmezustand
So wie bei dieser Veranstaltung in der alten Versammlungshalle, unterhalb der Royal Mile und der Burg, sieht es im August an vielen Orten in der schottischen Hauptstadt aus: Es ist Festivalzeit und die Stadt im Ausnahmezustand. "Zwölf Festivals richten die verschiedenen Veranstalter das ganze Jahr über aus - allein die Hälfte davon findet Anfang August statt", sagt die schottische Kunstministerin Fiona Hyslop. Ein Bücherfestival gehört ebenso dazu wie ein Kunst- und ein Weltmusikfestival. Die größten Events im August heißen jedoch: Royal Edinburgh Military Tattoo und The Fringe.
Allein letzteres verkauft rund zwei Millionen Tickets pro Jahr: An 299 verschiedenen Spielorten, in Pubs, Theatern, Kellern oder auf Dachböden finden in diesem Jahr 49 497 Vorstellungen von 3193 Shows statt. Bekannte Schauspieler, Kabarettisten, Theater- und Musikgruppen finden ihren Weg nach Edinburgh - und eine große Zahl von Nachwuchskünstlern. Das hat eine lange Tradition.
Größtes Festival der Stadt ist The Fringe
Denn das größte der Festivals, The Fringe, entstand am Rand eines anderen Ereignisses: Die Kulturschaffenden hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein "International Festival" einfallen lassen, um die schlechte Lage der Menschen in Europa vergessen zu machen. Doch sie luden nur einige wenige Gruppen ein. "Die anderen aber kamen trotzdem, denn sie dachten sich: wo viele Zuschauer sind, spielen wir auch", sagt Sprecherin Kate Bouchier-Hayes. Und so entstand am Rand, englisch "in the fringes", das heute größte Festival der Stadt.
Damit jeder Besucher weiß, wo er hin muss und nicht in den vielen Gassen und Stiegen verloren geht, weisen große Schilder an den Mauern auf die Orte hin: Im Programm und auf der Eintrittskarte ist jeder Veranstaltungsort mit einer Nummer versehen. So findet man auch die kleinste Location in der entlegensten Gasse.
Esplanade verwandelt sich in Amphitheater
Ein Ort ist allerdings nicht zu übersehen während der Festivalzeit in Edinburgh: Die Esplanade, der Platz vor der Burg, verwandelt sich schon lange vor dem Startschuss der Festivals in eine Art Amphitheater. Denn beim Edinburgh Military Tattoo geben sich drei Wochen lang Dudelsack-Formationen aus Schottland und den Commonwealth-Staaten sowie Gäste aus der ganzen Welt ein Stelldichein. Mit den Massed Pipes and Drums beginnt das Spektakel jeden Abend um 21.00 Uhr, nur am Sonntag ist Ruhetag für die Musiker auf dem Castle Rock.
Und diese Gruppen machen vor allem Unerwartetes: spielen Gassenhauer auf ihren Steeldrums, legen in Uniform eine kesse Sohle auf den betonierten Boden oder geben Landestypisches zum Besten. "Sie haben nur eine Vorgabe: Jede Darbietung darf sechs Minuten dauern - mehr nicht", sagt Brigadier David Allfrey, der das Tattoo seit Jahren organisiert. Dass er auf die Einhaltung sehr genau achtet, glaubt man dem einstigen Soldaten mit der durchdringenden Stimme sofort.
Jede Vorstellung endet mit einem Feuerwerk
Wie alle Festivals in der Stadt, hat auch das Tattoo seinen Ursprung direkt nach dem Krieg. "Es gab ja nichts - aber das Militär hatte Musikinstrumente und Männer, die sie spielen konnten." Und so entstand das Tattoo, das nichts mit Tätowierungen zu tun hat. "Während des 17. und 18. Jahrhunderts rief man in den Inns 'Doe den tap toe' und meinte damit, dass kein Bier mehr ausgeschenkt wurde", erläutert Allfrey.
Einen ähnlichen Ursprung hat auch der bei uns besser bekannte Zapfenstreich. Mehr als 13 Millionen Menschen haben das Tattoo seit der ersten Ausgabe 1950 auf der Esplanade gesehen - mitgemacht haben Formationen aus 46 Ländern auf sechs Kontinenten. "Und trotz des auch im August mitunter wechselhaften Wetters ist noch keine einzige Vorstellung ausgefallen."
Modernisiert wird hingegen immer, vor allem beim Drumherum. So endet inzwischen jede Vorstellung mit einem Feuerwerk, die Mauern der altehrwürdigen Burg sind nun Projektionsfläche für Lichtspiele. Doch an einem darf Brigadier Allfrey nicht rütteln: dem Ende der Veranstaltung. Drei Dinge beschließen jedes Tattoo: die Nationalhymne, das alte schottische Freundschaftslied "Auld Lang Syne", das alle gemeinsam singen und das Solo des Lone Pipers, der mit seinem Dudelsack auf einer Mauer der Burg steht und in blaues Licht gehüllt ein "Lamento" spielt. "Das muss so sein, das will jeder hören, da fließen viele Tränen", sagt Allfrey. So viel Tradition muss sein. (dpa)