Unterwegs zur Halong-Bucht müssen zunächst die Ungetüme der Schwerindustrie besiegt werden

Eine Kakophonie aus Hupen tausender Zweiräder bestimmt den Rhythmus der schnittigen Ausweichmanöver. Der hektische Verkehr gleicht einem Mopedhexenkessel. „Thang Long ist der antike Name Hanois und bedeutet aufsteigender Drache, als Gegenstück zu Halong”, erklärt Reiseleiter Herr Thai nüchtern. Dann bespricht er mit dem gelassen wirkenden Fahrer auf vietnamesisch die Route zur Halong-Bay, die Bucht des „Herabsteigenden Drachen”. Der Weg zum Traumziel, das die schönsten Fotomotive hergibt und seit 1994 größtenteils als Weltnaturerbe unter Unesco-Schutz steht, führt zunächst durch den Schlund eines neuzeitlichen Giganten. Mitten durch die Hauptstadt der Sozialistischen Republik Vietnam.

Raus aus der Millionenstadt beginnt die Autofahrt ins Drachen-Glück. Die Autobahn Nummer 18 wird von Händlern gesäumt. Spitz behütet von ihren aus Palmenblättern hergestellten und kegelförmigen Kopfbekleidungen, versorgen sie die Maut zahlenden Pendler mit Snacks und Tand. Erste Urlaubsgefühle keimen auf, als die vom Roten Fluss bewässerten Reisfelder das Bild der Ebene zu bestimmen beginnen: Ochsen ackern, Kormorane halten gierig nach fetten Karpfen Ausschau: Die nur 165 Kilometer lange, aber nahezu vier Stunden dauernde Anreise gewinnt mehr und mehr an touristischer Dramatik. In der Ferne tauchen die Karsttürme der „Trockenen Halong Bay” auf – als Vorboten des versprochenen Urlaubsglücks. Es sind die auf dem Festland ruhenden Ausläufer der 2000 kleinen Inseln von Halong, Überreste eines vom Ozean verschlungenen Karstgebirges.

Dschunken bringen die Touristen in die vorgelagerte Inselwelt Vietnams - Halong gilt als eine der schönsten Buchten Asiens.
Dschunken bringen die Touristen in die vorgelagerte Inselwelt Vietnams - Halong gilt als eine der schönsten Buchten Asiens. © Foto: Robert niedermeier | Foto: Robert niedermeier





Beim Näherkommen erschrickt man jedoch über die Wunden, welche die Steinbrüche ohne Unterlass in die felsigen Naturmonumente fräsen. Am Horizont blitzen die Hochspannungsleitungen von Uong Bi auf. Feuer speiende Schlote schleudern Flammen in den Morgenhimmel, gewaltige Kühlkessel aus Stahlbeton lassen mächtig Dampf ab. Ringsum ist die Luft vom Ruß des gewaltigen Kohlekraftwerkes geschwängert, das dem 100 000-Einwohner-Industrie-Ort seinen kohlrabenschwarzen Stempel aufdrückt. Auf Mopeds und Fahrrädern strömen die Werktätigen ins Innere des stöhnenden Monstrums der Industrie. Die mit Schlieren beschmierte Limousine passiert Steinhäuser, die im Kolonialstil mit bunt-kitschigen Balkonen protzen.

In Bretterbuden werden Schuhe neu besohlt oder Frisuren in Form gebracht. Ist das jetzt etwa der Weg ins Paradies? „Wir sind hier in der Quang Ninh-Region, dem Ruhrgebiet von Vietnam”, erzählt Thai, der in der DDR die deutsche Sprache und den Beruf des Chemiefacharbeiters erlernte.

Und schließlich: Wenige waghalsige Überholmanöver und Mopedkolonnen weiter, breitet sich endlich das südchinesische Meer aus. Das Ziel der Reise. „Bitte sehr – Halong City”, lächelt Thai.

Von hier aus sticht täglich eine 400 Drachenboote starke Touristen-Armada in See. Es geht rein in die vorgelagerte Inselwelt. Ein Ehepaar aus Mannheim ist ganz aufgeregt: „Im Reisebüro wurde erzählt, Halong sei die schönste Bucht ganz Asiens”, sagt Christoph. „Deshalb machen wir die vier-tägige Boots-Tour am Anfang unserer Vietnam-Reise”, ergänzt seine Gattin Petra ungeduldig.

Alten Mythen zufolge sei es einem Drachen zu verdanken, dass die Bucht im Tonkin-Golf mit ihrer imposanten Anmut beeindruckt. Als das glückbringende Fabelwesen im Norden Vietnams zum Hieb ausholte, zersprang ein Berg in unzählige Stücke. Auf über 1500 Quadratkilometern im Ozean verstreut, lassen die Formationen aus Kuppeln und Plateaus, Türmen und Zinnen sowie Sattelfelsen und spitzen Gipfeln, heute unweigerlich den Auslöser der Digital-Kamera drücken.

Gespannt betritt das Paar ihr mit acht Doppelkabinen sehr komfortabel ausgestattetes Schiff, das sich neben einer langen Reihe weiterer Holz-Dschunken im ruhigen Gewässer wiegt. Dunkles Holz dominiert die Sonnenterrasse und sorgt so für ein schickes Ambiente.

Aber bereits 20 Minuten nachdem das nostalgische Gefährt in See gestochen ist, reißt die Schönheit der Natur das Ruder an und zieht die Aufmerksamkeit der Urlauber auf sich. Die Macht maritimer Winde reißt den Himmel auf, kraftvoll flutet die Sonne das Deck. Kurz vorm Horizont verfangen sich die Lichtstrahlen im milchigen Dunstschleier, bleiben wie feine Seidenfäden an geheimnisvoll anmutenden Konturen hängen, die sich in der Ferne dunkel abzeichnen: Es sind unzählige kleine und größere Inseln. Die Touristen fotografieren.




Kaum 150 Meter weiter trifft das Sonnenlicht auf schwarz-weißen Fels. Dort, wo Jahrmillionen der Erdgeschichte Nischen bildeten, ergreift die Vegetation die Chance zum üppigen Wuchs. Das Boot, gefolgt von einem Dutzend Halong-Tourenschiffen, kreuzt die Insel, Wellen plätschern milde an die Planken, schon taucht das nächste Eiland auf: „Hier wurde 1993 Thieng Cung, die größte Tropfsteinhöhle Halongs entdeckt”, schildert Thai bei Landgang. Die neugierigen Besucher trotten dem Wissenden hinterher. Thai führt am Souvenirshop vorbei und dann in steiler Serpentine den mit Rankpflanzen begrünten und durch die Wunder der Erosion fantasievoll geformten Kalk-Felsen hinauf.

Am Höhlen-Eingang wärmt sich ein Gecko in der Dezembersonne: „Früher lebten hier Fledermäuse”, sagt Thai. Bis zur Jahrtausendwende führte er noch mit Fackeln durch das Labyrinth aus Stalaktiten und Stalagmiten. Die längst entfleuchten Flugsäuger hielten ihr Domizil lieber in Düsternis, aber Touristen wollen bildstarke Action, posieren unterhalb der mit Scheinwerfer bunt illuminierten Balustrade aus Stein. Angesichts der jäh in die Tiefe fallenden und 20 Meter emporragenden Steilwände wirken sie mickrig. „Siehst du, drei Meter über dem Chinesen erkennt man einen Drachen: der Schwanz, der Köper, sein Maul.”

Thai lässt seiner Fantasie freien Lauf. Doch das touristische Höhlenleben lenkt ab. Mit Argusaugen gilt es zu beachten, dass kein Chinese, Amerikaner oder Deutscher beim Fotografieren stört.

Zurück auf See gleitet eine Dschunke an einem schwimmenden Fischerdorf vorbei. Die kleinen Hütten treiben auf Schwimmkörpern aus Kunststoff auf der Oberfläche. Ihre Bewohner tauchen außerhalb des streng geschützten Cat Ba-Nationalpark-Areals freiberuflich oder angestellt nach Perlen, andere arbeiten in den Schrimp-Farmen oder beliefern die Halong-Gäste mit begehrten Souvenirs und frischem Fisch.

Im späten Mittelalter schnitzten ihre Vorfahren die wehrhaften Holzpfähle, die am Delta des Roten Flusses den Einfall der Mongolen vereitelten. Heute nutzen sie die Vorteile der mit Ausländern bemannten Flotte für die Aufbesserung ihres bescheidenen Einkommens. Zum Glück ein schönes Foto-Motiv.