Bochum. . Turbo-Abi, Inklusion, Unterrichtsausfall: Das WAZ-Wahlforum widmete sich der NRW-Bildungspolitik und fragte: Wie gut sind unsere Schulen?
Bildungspolitik geht jeden etwas an. Mit ihr lassen sich Wahlen gewinnen – oder verlieren. Entsprechend umkämpft ist das Thema, denn die Gruppe der Betroffenen ist groß: Etwa 170 000 Lehrer unterrichten rund 2,5 Millionen Schüler, auch in den Familien ist Schule ein alltägliches Thema. Beim zweiten WAZ-Wahlforum „Wie gut sind unsere Schulen?“ ging es am Mittwochabend daher um die besonders heiß diskutierten Themen „Turbo-Abi“, Inklusion und Unterrichtsausfall.
Auf dem Podium stellten sich Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne), CDU-Bildungsexperte Klaus Kaiser und der Vorsitzende der Landeselternschaft der Gymnasien NRW, Ulrich Czygan, der Debatte. Moderiert wurde das Forum in der Bochumer Stadtpark-Gastronomie vor zahlreichen Lesern von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ.
Das Turbo-Abi:
Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) warb für ihre Idee einer „individuellen Lernzeit“ für alle Kinder. „Wir sollten uns darauf besinnen, dass jedes Kind anders ist“, sagte sie. Das Schulsystem müsse sich den Kindern anpassen, nicht umgekehrt. Der acht- und der neunjährige Weg zum Abi sollte an jedem Gymnasium und auch an Gesamtschulen möglich sein. Viele Schulen böten heute schon erfolgreich individuelle Lernzeiten an.
G8 und G9 gleichzeitig an einer Schule? „Das funktioniert nicht an 600 Gymnasien im Land“, warnt Klaus Kaiser. Zudem bestünde dann die Gefahr, dass es an einer Schule ein Abitur erster und eins zweiter Klasse gäbe. Die Union möchte den Schulen selbst die Wahl lassen zwischen G8 und G9. „Und wenn 100 Prozent der Schulen den längeren Weg zum Abitur wollen, dann gibt es eben 100 Prozent G9“, so Kaiser.
„Wer den Schulen die Wahl zwischen G8 und G9 geben will, der erzeugt vor Ort Schulkämpfe“, entgegnete Ulrich Czygan. Die Schulleitungen und damit womöglich auch die Schulkonferenzen würden wohl mehrheitlich für G8 stimmen. „Aber die meisten Eltern und Lehrer wollen G9 zurück.“
Die Inklusion:
Heftig griff Kaiser die Ministerin bei der umstrittenen Inklusion an, das Vorhaben werde „vor die Wand gefahren“. Der Unterricht von Kindern mit Handicap in Regelschulen funktioniere in der Praxis nicht, wofür er großen Applaus aus dem Publikum erntete. „Beim Ziel einer inklusiven Gesellschaft sind wir einig“, so Kaiser, „doch auf dem Weg dorthin trennen uns große Unterschiede.“
66 Prozent der Eltern seien unzufrieden mit der Umsetzung der Inklusion, es könne nicht sein, dass ein Sonderpädagoge mehrere Schulen betreuen müsse. „Die Not an den Schulen ist groß“, sagte Kaiser. Er forderte, die Schließung von Förderschulen zu stoppen und inklusive „Schwerpunktschulen“ einzurichten, die anderen als Vorbild dienen könnten. „Zu sagen, wir müssen nur noch im Detail nachsteuern, geht an der Realität vorbei“, sagte Kaiser an die Ministerin gewandt.
Sylvia Löhrmann räumte Probleme an den Schulen ein, man benötige aber einen langen Atem. „Inklusion ist eine Generationenaufgabe“, sagte sie. „Wir sind erst im dritten Jahr der Umsetzung.“ Das Land habe 1,2 Milliarden Euro in Fortbildungen und zusätzliche Stellen investiert. Förderschulen würden nur geschlossen, wenn die Schülerzahl zu gering werde. Löhrmann: „Ich sage nicht, dass wir am Ziel sind.“ Die Landesregierung habe nochmals 1000 zusätzliche Stellen für die Inklusion beschlossen. Es gebe auch positive Beispiele, eine Mutter habe ihr geschrieben: „Mein Kind ist vom Patienten Schüler geworden.“
Der Unterrichtsausfall
„Es wäre leicht, mit einer speziellen Software den Unterrichtsausfall an jeder Schule zu messen“, glaubt CDU-Bildungsexperte Klaus Kaiser. Die vielen ausfallenden Stunden seien ein riesiges Problem, das führe zu großen Ungerechtigkeiten. „Das benachteiligt vor allem jene Kinder, die ohnehin Probleme in der Schule haben und sich keine teure Nachhilfe leisten können.“
Sylvia Löhrmann erklärt, dass NRW in der Bildungskonferenz bereits einen „praktikablen Weg“ zum Erfassen von Unterrichtsausfall gefunden habe, ohne die Schulen damit bürokratisch zu überlasten. Heute schon gebe es viele Schulen, die mit Ausfällen sehr gut umgingen. „Von denen müssen wir lernen“, so die Ministerin.
Dass im vergangenen Jahr in NRW im Schnitt angeblich nur 1,8 Prozent der Stunden ersatzlos ausgefallen sein sollen, kann Ulrich Czygan nicht glauben. „Wir haben eine Erhebung machen lassen an 53 Schulen in fünf Regierungsbezirken, und wir kamen auf einen dreimal höheren Wert.“ Die Erfahrungen der Eltern mit Unterrichtsausfall deckten sich nicht mit den offiziellen Angaben.
Zu viele Abiturienten?
Berufliche und akadamische Bildung seien gleichwertig, betonte Ministerin Löhrmann. Künftig würden ohnehin alle jungen Menschen als Fachkräfte gebraucht. Die Ministerin kritisierte scharf die Ansprüche vieler Großunternehmen. „Die fordern in Stellenausschreibungen mindestens Abitur, Auslandserfahrung und weitere Fremdsprachen.“ Solche überzogenen Erwartungen würden „den Jugendlichen nicht gerecht“.
Klaus Kaiser lobte die Berufskollegs: „Viele Bürgern wissen gar nicht, was für eine gute Arbeit die Berufskollegs leisten und dass man dort zum Beispiel auch das Abitur machen kann.“ Jeder junge Mensch könne beruflich eine zweite oder sogar eine dritte Chance bekommen.
Die Sorgen der Leser:
Bernhard Arens, Schulleiter aus Bochum, befürchtet einen drohenden Lehrermangel wenn in Zukunft die Gymnasien einen G8- und zugleich einen G9-Zweig anbieten sollen. Annette Korte aus Castrop-Rauxel beklagte, dass an ihrer Schule akut sechs Lehrerstellen unbesetzt seien, obwohl es Bewerber gebe. Die Ministerin versprach, dem nachzugehen.
Sabine Wiederhöft aus Dortmund forderte von der Politik mehr Mut, zu G9 zurückzukehren: „Ich bin eine G8-Gegnerin von Anfang an. Was hält sie davon ab, wieder flächendeckend zu G9 zurückzukehren? Klaus Kaiser antwortete, dass nach Ansicht der CDU jede Schule selbst darüber entscheiden sollte. Anja André forderte den Erhalt der Förderschulen: „Ich erlebe, dass diesen Kindern die Schutzräume fehlen.“ Ministerin Löhrmann verwies darauf, dass Eltern sich auch weiterhin für eine Förderschule entscheiden können.