Berlin/Stuttgart. Bundesinnenminister Horst Seehofer machte sich in Stuttgart ein Bild von der Lage. Er fordert, „die zu schützen, die uns schützen“.

Der Zug der Vermummten, Horst Seehofer und seine Gastgeber, biegt in die Königstraße ein, Stuttgarts Fußgängerzone und Einkaufsmeile. Vor einem Optiker sind einige Stehpulte. Hier baut sich der CSU-Mann auf, mit seinen 1,93 Meter ist er der natürliche Zugführer.

Er nimmt die Maske ab und legt los. Was am Wochenende in Baden-Württembergs Hauptstadt passiert sei, das sei schlimm genug, gleichwohl müsse es eingebettet werden in eine bundesweite Entwicklung: Die Zunahme der An- und Übergriffe auf Polizeibeamte, so der Bundesinnenminister.

Stuttgart ist überall, lautet eine Botschaft – und die andere: „Wir müssen die schützen, die uns schützen“. Darin stimmen er, Amtskollege Thomas Strobl (CDU), Ministerpräsident Winfried Kretschmann sowie Oberbürgermeister Fritz Kuhn (beide Grüne) überein. Hat die Polizei das nötig? Vermisst sie Rückhalt?

Polizei-Magazin fragt: „Woher kommt der Hass auf uns?“

„Nach meiner Wahrnehmung steht die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter ihrer Polizei“, sagt der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, unserer Redaktion. „Die Allerwenigsten schmeißen mit Steinen oder Müll auf uns.“ Der Müll, von dem er spricht, ist eine bitterböse Ironie, von der noch die Rede sein wird.

Romann weiß genau, dass die Polizeibeamten darauf schauen werden, wie die Reaktion von Politik und Justiz ausfallen wird. Die Polizei ist gerade leicht waidwund. Die Schlagzeile des April-Magazins der Gewerkschaft der Polizei lautet: „Woher kommt der Hass auf uns?“

Innenminister Horst Seehofer (CSU) begutachtet ein Polizeiauto, das schwer beschädigt wurde.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) begutachtet ein Polizeiauto, das schwer beschädigt wurde. © dpa | Marijan Murat

Die Rassismusdebatte habe „fatale Folgen“ für die Polizei

Die Stuttgarter Übergriffe, obgleich nicht konkret vorhersehbar, könnten „kaum verwundern“, erklärt der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, unserer Redaktion. Beiträge aus der deutschen Politik hätten dazu geführt, „dass bei uns eine Debatte über Rassismus und Polizeigewalt losgetreten wurde“ – wie Wendt hinzufügt: „mit fatalen Folgen“. Es ist unschwer zu erkennen, wen Gewerkschafter Wendt meint, SPD-Chefin Saskia Esken. Wen sonst?

„Zigtausende Demonstranten in aller Welt stehen auf, weil der gewaltsame Tod von George Floyd durch einen Polizeieinsatz in den USA kein Einzelfall ist“, hatte sie unserer Redaktion gesagt, „deutsche Demonstranten schauen aber auch auf die Verhältnisse vor der eigenen Haustür: Auch in Deutschland gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen“. Viele in Politik und Polizei nehmen ihr diese Worte übel, wiewohl Esken sie relativiert und eingeordnet hat. Sie hat sich erklärt.

„So berechtigt die Kritik an den Polizeiskandalen in den Vereinigten Staaten auch ist: Es gibt keinen Anlass, die Redlichkeit und Vertrauenswürdigkeit unserer Polizistinnen und Polizisten infrage zu stellen, die eine ausgezeichnete Arbeit leisten“, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Gewerkschafter Wendt geht sogar weiter und zieht indirekt eine Linie zu Stuttgart. „Viele Einsatzkräfte sind verunsichert, und Verdächtige, die von der Polizei kontrolliert werden sollen, fühlen sich zum Widerstand ermuntert.“

Das beschreibt ziemlich genau die Situation, als die Polizei in der Nacht auf Sonntag eine Drogenkontrolle auf dem Schlossplatz durchführt. Danach explodiert die Feindseligkeit, die Leute leisten Widerstand, auch zur Überraschung der Polizei, die Verstärkung herbeiruft, als der Mob (Strobl) angreift, pöbelnd und plündernd durch die Stadt zieht. „Was in Stuttgart passiert ist, waren weder Happening noch Event, sondern schwerste Straftaten“, so Romann. „Was ist das für ein Klima, das dazu führt?“

Hunderte Menschen randalieren in Stuttgarter Innenstadt - Geschäfte geplündert

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    Stuttgart „darf kein zweites Mal passieren“

    Tausende Menschen sind in der Nacht unterwegs. Der Schlossplatz ist ein beliebter Treffpunkt in Stuttgart. Klar scheint zu sein, dass die Gewalt weder geplant noch politisch gelenkt wird. Eher drückt die Eskalation eine allgemeine Anti-Haltung zum System aus, zum Staat. Alkohol spielt eine Rolle, auch Machogebaren, es handelt sich überwiegend um Männer, vielleicht auch Frustabbau – nach der Zeit des Corona-Lockdowns.

    Mit Erklärungsversuchen ist es nicht getan. Die Polizei setzt eine 40-köpfige Ermittlungsgruppe ein, um alle Fotos und Videos von der Krawallnacht auszuwerten. Die ersten Festgenommenen werden dem Haftrichter vorgeführt. Und der Ruf nach harten Strafen wird laut. Das passt zu Strobls Kampfansage: „Das darf es kein zweites Mal geben.“

    Leichter gesagt als getan. Wendt weiß aus Erfahrung, dass es nicht einfach wird, einzelnen Verdächtigen konkrete Handlungen nachzuweisen. „Die Kölner Silvesternacht 2015/16 oder die Krawalle rund um den G20-Gipfel in Hamburg haben gezeigt, wie schwierig das ist.“

    Die zunehmende Enthemmung und Respektlosigkeit gegenüber der Polizei seien ein „Alarmsignal“, warnt Herrmann. „Schon seit Jahren werden unsere Einsatzkräfte vermehrt angegriffen und oftmals auch verletzt“, erinnert er. Der Polizeiapparat hat ein kollektives Gedächtnis. Allein 2019 gibt es 36.959 Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt, statistisch: 100 Fälle pro Tag. Darunter sind fast 15.000 tätliche Angriffe. Es bleibt nicht „nur“ bei Beschimpfungen.

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      Der Innenminister will die große, die dramatische Geste

      Es kommt gerade viel zusammen, zur Floyd-Debatte noch eine „taz“-Satire, in der die Polizei quasi als Müll vom Rest der Gesellschaft getrennt wird – daher Romanns Anspielung. Seehofer hat nach der „taz“-Kolumne ein paar Nächte darüber geschlafen. Aber seine Empörung ist nicht verraucht. Im Gegenteil, sie lodert heftiger. Nach Stuttgart. Er will gegen die Autorin Anzeige erstatten. Er will die große, die dramatische Geste.

      Noch am Sonntag greift er zum Telefon und schlägt Strobl einen Auftritt vor der Hauptstadtpresse vor. Strobl rät ihm, lieber nach Stuttgart zu kommen; für Seehofer kein Umweg, die Wochenenden verbringt er daheim in Bayern. Während sein Sprecher in Berlin beteuert, es sei nicht entschieden, ob die „taz-Autorin verklagt werde, beteuert der Wutbürger im Kabinett: „Ich beabsichtige das.“

      Da hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) längst mit ihrem CSU-Minister telefoniert. Seine Hausjuristen diskutieren mit Seehofer alle Vor- und Nachteile einer Anzeige sowie die Erfolgsaussichten vor Gericht. Aber lässt sich ein Horst Seehofer wirklich einfangen?

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