Essen. Kitas, Straßen, Schulen: Eine neue Vergabe-Richtlinie für öffentliche Projekte könnte die Bemühungen um schnelleres Bauen aushebeln.
Ob Kitas, Feuerwachen, Straßen oder Schulen: Trotz aller Beteuerungen der Politik, Bauvorhaben beschleunigen und die Planungsbürokratie entschlacken zu wollen, droht öffentlichen Bauten womöglich das glatte Gegenteil: Stillstand. Das jedenfalls fürchtet ein breites Bündnis der großen Architekten- und Bauingenieurverbände unter Führung der NRW-Ingenieurkammer Bau.
Appell an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck
Die bundesweite Gruppierung hat nun einen dramatischen Appell an Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) gerichtet. Hintergrund der Sorgen der Baubranche ist eine bereits seit 2019 gültige Vergaberichtlinie der EU, die von Deutschland bislang nicht umgesetzt wurde. Das Bundeswirtschaftsministerium will dies aber in den nächsten Monaten nachholen.
Verbände fürchten drastische Folgen für das gesamte öffentliche Bauwesen vor allem in den Kommunen
Die Anwendung der EU-Richtlinie wird aus Sicht der Ingenieursverbände drastische Folgen für das gesamte öffentliche Bauwesen vor allem in den Kommunen haben. Hintergrund ist eine Veränderung im deutschen Vergaberecht für öffentliche Bauten, die sich weitgehend unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung im politischen Korridor zwischen der Brüsseler EU-Kommission und dem von Robert Habeck (Grüne) geführten Bundeswirtschaftsministerium anbahnt.
Planungsanteil selbst sehr kleiner Bauprojekte wird EU-pflichtig
Im Kern geht es darum, dass Planungsleistungen für öffentliche Bauprojekte künftig nicht mehr pro Gewerk ausgeschrieben werden dürfen. In sich abgeschlossene Berechnungen etwa für das Tragwerk, für Umwelt-, Lärm- und Brandschutzauflagen müssen nach EU-Recht demnach zwingend zusammengefasst ausgeschrieben werden. Laut der Ingenieurkammer Bau würde dadurch der Planungsanteil selbst sehr kleiner Bauprojekte die Wertgrenze von 215.000 Euro für die EU-weite Ausschreibungspflicht locker reißen. In der Branche geht man von rund 20 Prozent Planungsanteil an den Gesamtkosten eines Bauprojektes aus.
Wegen der Änderung der Schwellenwerte müssten rund 90 Prozent aller Planungsleistungen für öffentliche Projekte demnach künftig europaweit ausgeschrieben werden, derzeit sind es den Angaben zufolge lediglich zehn bis 15 Prozent. „Damit wird jede Kita und jedes Gerätehaus für die freiwillige Feuerwehr auf die EU-Bühne gehoben“, sagte Heinrich Bökamp, zugleich Präsident der Ingenieurkammer Bau NRW und der Bundesingenieurkammer, der WAZ.
Sorge vor neuem "Bürokratiemonster"
Ausschreibungsverfahren selbst für kleinere und mittlere Bauprojekte dürften sich nach Einschätzung der Kammern damit um Monate verlängern, wenn sie überhaupt noch in Gang gesetzt würden. Bökamp warnt vor einem neuen „Bürokratiemonster“ und fürchtet, dass die Einführung der EU-Verordnung „einer Art Baustopp“ für Aufträge der öffentlichen Hand gleichkommt.
Die Ingenieurkammer rechnet damit, dass Kommunen allein für die Umsetzung eines Ausschreibeverfahrens dann mindestens sechs Wochen brauchen, nicht mehr wie noch heute üblich nur zwei Tage. Besonders kleinere Gemeinden seien damit überfordert.
„Die Bautätigkeit wird versiegen"
Und auch die in Deutschland weit verbreiteten kleineren Ingenieurbüros mit nur ein oder zwei Mitarbeitern kämen dann wohl nicht mehr darum herum, eine zusätzliche Kraft allein für das komplizierte EU-Ausschreibungsverfahren einzustellen. Die aber seien auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt für Ingenieure gar nicht mehr zu finden. Bökamp rechnet damit, dass viele Büros als Konsequenz die Finger von allen öffentlichen Bauprojekten lassen, zumal die EU-Ausschreibung auch das Risiko von Klagen unterlegener Wettbewerber deutlich erhöhe. Auch dies würde Bauvorhaben weiter in die Länge ziehen. Bökamp: „Die Bautätigkeit wird versiegen, denn niemand wird sein Personal aufstocken können.“ Und das in einer Zeit, in der ohnehin viele Bauprojekte durch Fachkräftemangel, Inflation und hohe Energiekosten immer mehr in Verzug geraten.
Bundeswirtschaftsministerium nennt Sorge "nachvollziehbar"
Die Verbände und Kammern - darunter auch die Bundesarchitektenkammer, der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten, der Bund Deutscher Baumeister und der Verband Deutscher Vermessungsingenieure - setzen nun darauf, dass Bundeswirtschaftsminister Habeck das Verfahren noch stoppt, zumindest aber eine Heraufsetzung der Schwellenwerte für die EU-Pflichtausschreibung durchsetzt. „Andernfalls geht ein gesunder und gut funktionierender Markt an Planungsleistungen für Städte und Kommunen unwiederbringlich verloren“, warnt Bökamp. Auch die dringend benötigte Dynamik der Planung und Abwicklung von Bauprojekten werde noch stärker ins Stocken geraten. Schon heute würden öffentliche Hand und Ingenieurbüros durch die Formalien und den Aufwand bei europaweiten Vergabeverfahren unverhältnismäßig belastet.
Das Bundeswirtschaftsministerium nannte die Sorgen der Verbände und Kammern auf Anfrage „nachvollziehbar“. Ein Sprecher von Wirtschaftsminister Habeck stellte zudem weitere Gespräche zum Thema in Aussicht: „Auch die Belange der planenden Berufe werden dabei eine wichtige Rolle spielen.“ Die Gesetzesänderung solle indes noch vor der parlamentarischen Sommerpause erfolgen.