Essen. Nach einem Jahr Ukraine-Krieg scheint ein Frieden ferner denn je. Konfliktforscher in NRW sehen derzeit wenig Hoffnungen für Verhandlungen.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Weltlage dramatisch verändert. Ein Krieg mitten in Europa - das schien für die meisten Menschen noch bis vor einem Jahr unvorstellbar. Die WAZ sprach mit Jochen Hippler (Universität Duisburg-Essen) und Nils-Christian Bormann (Universität Witten) - zwei renommierten Konflikt- und Friedensforscher aus dem Ruhrgebiet - über den bisherigen Kriegsverlauf, die Bedeutung von Waffenlieferungen und die Aussicht auf eine Verhandlungslösung.

Zur Bilanz nach einem Jahr Krieg:

Als Putins Militär die Ukraine am 24. Februar 2022 überfiel, gingen fast alle Beobachter von einem erfolgreichen Blitzkrieg aus. „Man dachte, das ist eine Sache von wenigen Tagen, dann fällt Kiew“, sagt Jochen Hippler. Inzwischen habe der Krieg seinen Charakter verändert. Hippler: „Es ist ein Stellungskrieg mit festgefahrenen Frontlinien geworden und hohen Verlusten auf beiden Seiten.“

Friedensforscher Jochen Hippler.
Friedensforscher Jochen Hippler. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Nils-Christian Bormann spricht von einem „Abnutzungskrieg“. Es bestehe eine Patt-Situation. „Im Fachjargon spricht man von einem sogenannte „hurting stalemate“ – einem schmerzenden Patt. Solche Kriege werden in der Regel von derjenigen Seite gewonnen, die mehr Durchhaltevermögen hat, die in der Lage ist, die verursachten Schmerzen und die Kosten länger zu ertragen“, so Bormann. Das sei nach Lage der Dinge derzeit die Ukraine.

Zum Ende des Krieges:

Die Frage, wann der Krieg zu Ende geht, kann derzeit wohl niemand beantworten. „Vielleicht sehen wir im Sommer klarer. Beide Seiten bereiten größere Offensiven vor. Ein Erfolg oder Misserfolg dieser Operationen könnte kriegsentscheidend sein“, sagt Jochen Hippler. Ein anderes Szenario sei, dass Russland versuchen könnte, die Ukraine auf Dauer zu verschleißen und darauf zu setzen, dass der Westen ermüdet.

Doch selbst wenn die Unterstützung des Westens für die Ukraine nachließe, würde der Krieg nicht zwangsläufig enden, glaubt Nils-Christian Bormann. „Er würde in eine andere Phase übergehen: in die eines Guerrillakrieges. Denn ich glaube nicht, dass die Ukrainer sich ergeben werden.“

Zu den Chancen auf eine Verhandlungslösung:

Putin wird sich nicht stoppen lassen durch Verhandlungen, ist Jochen Hippler überzeugt. „Solange Putin glaubt, er kann militärisch gewinnen, wird er Verhandlungen höchstens zum Schein führen, oder um Zeit für eine Stärkung seines Militärs zu gewinnen. Daher muss man seine Aggression erstmal stoppen“, sagt der Duisburger. Deshalb seien auch die Waffenlieferungen zunächst weiter nötig.

Nils-Christian Bormann
Nils-Christian Bormann © UWH | Jan Vestweber

Nils-Christian Bormann zieht einen Vergleich zu den postkolonialen Kriegen der jüngeren Vergangenheit, etwa zum Vietnamkrieg, dem Afghanistan- und dem Irakkrieg – und sieht einen vagen Hoffnungsschimmer. In all diesen Kriegen habe die jeweils beteiligte Supermacht am Ende verloren. Bormann: „Alle diese Kriege wurden letztlich durch Verhandlungen beendet.“

Zur Brutalität des Krieges:

Krieg führe immer zu Verrohung und Brutalisierung, sagt Jochen Hippler. „Nach den ersten Toten sinken die psychologischen Hemmschwellen. Das kann man überall beobachten“, sagt er. Die Gräueltaten der Russen in Butscha hätten sich allerdings am Anfang des Krieges ereignet. Daher seien die Massaker schwer zu erklären, räumt Hippler ein.

Die Forschung zeige zudem, dass die Verrohungen der Menschen durch Kriege lange nachwirken, betont Bormann. „Das war zum Beispiel auch in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg der Fall. Gewalterfahrungen schlagen sich in einer Gesellschaft nieder“, so der Wittener.

Zur Aussicht auf Versöhnung:

Eine Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland nach dem Krieg hält Nils-Christian Bormann trotz aller Gewalterfahrungen grundsätzlich für möglich. „Auch dafür gibt es historische Vorbilder. Wer etwa hätte gedacht, dass Franzosen und Deutsche nach 150 Jahren Erbfeindschaft nach 1945 wieder zusammenfinden würden?“

Zur Lieferung von Kampfjets an die Ukraine:

Das Nein zu Kampfjets für die Ukraine von Bundeskanzler Olaf Scholz sieht Jochen Hippler „nicht in Stein gemeißelt“. Weil einige Nato-Länder darüber nachdächten, würde das die deutsche Politik unglaubwürdig machen. Hippler: „Bei allen Waffenlieferungen müsste aber sichergestellt sein, dass die Ukraine damit nicht russisches Staatsgebiet angreift.“

Zum Risiko eines russischen Atomschlages:

Dass Putin in der Ukraine sein Atomarsenal einsetzt, hält Nils-Christian Bormann heute für weniger wahrscheinlich als noch zu Beginn des Krieges. „Auch Kriege etablieren mit der Zeit ihre Normen und Gesetzmäßigkeiten. Und dieser hier hat sich zu einem brutalen, aber konventionell geführten Waffengang entwickelt“, sagt er. Ausschließen dürfe man den Gebrauch von Atomwaffen allerdings nicht. „Es ist unklar, wie Putin reagiert, wenn er sich militärisch in die Enge getrieben fühlt.“

Zum möglichen EU-Beitritt der Ukraine:

Als „Symbol der Zugehörigkeit“ würde Jochen Hippler einen EU-Betritt der Ukraine begrüßen. Mit Blick auf die Zukunft der EU sei der Schritt aber problematisch. Zunächst müsse sich die EU selbst reformieren und wieder handlungsfähig werden. Hippler: Die Ukraine braucht unsere Hilfe, auch mit schweren Waffen. Was sie nicht braucht, sind Illusionen über einen schnellen EU-Beitritt, die nur enttäuscht werden können.“

Zur Zeitenwende:

„Die Zeitenwende bedeutet für die deutsche Gesellschaft ein Umdenken darüber, wie sinnvoll Militär ist“, sagt Nils-Christian Bormann. Es werde sich die Erkenntnis durchsetzen, dass einseitige Abrüstung als Idee „plötzlich nicht mehr funktioniert“. Bormann: „Die Neujustierung der Verteidigungspolitik hat bereits begonnen und wird sich noch intensivieren. Die finanziellen Kosten dafür treten damit in einen deutlich stärkeren Wettbewerb mit anderen staatlichen Ausgaben als bisher.“

>>>> Die Wissenschaftler:

Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Jochen Hippler(67) arbeitet bis 2019 als Wissenschaftler am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Uni Duisburg-Essen, anschließend war Hippler Länderdirektor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad, Pakistan.

Nils-Christian Bormann ist Konfliktforscher und seit 2017 Professor für „International Political Studies“ an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft der Universität Witten/Herdecke. Der 37-Jährige wuchs in Witten auf und forschte unter anderem an der ETH Zürich und der University of Pennsylvania.