Essen. Die staatlichen Maßnahmen sind weg, die Teststellen bald zu, doch Minister Laumann hat noch einen Weg, neue Warnzeichen zu erkennen.
Herr Minister, dem Handwerk gehen die Fachkräfte aus. Warum ist die Lehre so unbeliebt?
Die duale Ausbildung ist beliebter als viele denken. Zurzeit gehen in Nordrhein-Westfalen mehr junge Leute in die Lehre als an Universitäten und Fachhochschulen studieren. Der Anteil der Abiturienten unter den Auszubildenden ist inzwischen ziemlich hoch. Aber wir merken auch, dass sich die heutigen Schulabsolventen später und bewusster für einen Ausbildungsweg entscheiden wollen. Eine bewusste Berufsentscheidung zu treffen ist auch richtig so, denn glücklich wird man nur in einem Beruf, den man wirklich mag.
Was können Sie tun, um echte Gleichrangigkeit zum Studium hinzubekommen?
Das Durchschnittsalter im ersten Ausbildungsjahr liegt mittlerweile bei 21. Ich bin noch mit 15 in die Lehre gegangen. Wenn wir also mit den Betrieben die Berufsorientierung immer weiter verbessern und mit Initiativen wie unserer neuen staatlichen Meisterprämie von 2500 Euro auch die nötige Anerkennung zollen, dann bleibt die duale Ausbildung eine sehr attraktive Alternative zum Studium. Es gibt gute Ausbildungs- und Berufsperspektiven sowie gute Verdienstchancen in vielen Branchen.
Fehlt es Handwerksberufen an Prestige?
Das sind doch Klischees, das Image wandelt sich längst. Jeder ist heute froh, wenn er einen guten Schreiner, Klempner oder Heizungsmonteur kennt. Und viele von denen bringen es zu Arbeitszufriedenheit und Wohlstand, von dem manche Hochschulabsolventen nur träumen können.
Warum klappt es mit der Zuwanderung in handwerkliche Berufe weiterhin eher schlecht?
Bei der Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, die 2015 zu uns gekommen sind, ist sicher noch Luft nach oben. Immerhin haben es aber mehr als die Hälfte von ihnen in reguläre Jobs geschafft. Bei den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, von denen viele bald ihre mehrmonatigen Sprachkurse absolviert haben werden, muss es besser gelingen. Die Entwicklung ist bereits positiv, immer mehr sind mittlerweile in Beschäftigung. Es ist aber auch bekannt, dass sich die Gruppe der Kriegsgeflüchteten im Wesentlichen aus Frauen und Kindern sowie älteren Menschen zusammensetzt. Hier stehen vor allem Themen wie Wohnungssuche, Kinderbetreuung oder Schulbesuch im Vordergrund, bevor auch faktisch eine Arbeitsaufnahme in den Blick genommen werden kann. Die aus der Ukraine geflüchteten Menschen sind oft gut ausgebildete, hochmotivierte Leute. Es wäre unverzeihlich, wenn wir es nicht schaffen würden, sie in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren.
Wie gelingt das?
Bei der Übersetzung von ausländischen Abschlüssen und Vorerfahrungen auf unsere Qualifikationsstandards müssen wir unbürokratischer werden. Wir haben in NRW im vergangenen Jahr nur etwas mehr als 10.000 Berufsanerkennungsverfahren bearbeitet, davon gut 7000 im Gesundheitsbereich. Da fehlt es manchmal an Flexibilität. Wer Mauern kann, muss bei uns auch als anerkannter Maurer mit entsprechendem Gehalt arbeiten können. Wenn unser gut organisiertes Kammersystem Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen will, müssen wir uns endlich klarmachen: Es gibt fast acht Milliarden Menschen auf der Erde, aber nur rund 100 Millionen leben in einem System der dualen Ausbildung, wie wir es kennen.
Welche Lehren ziehen Sie aus dem Insolvenzfall Galeria Karstadt Kaufhof?
Unabhängig von der Frage, welche Managementfehler da konkret gemacht wurden und inwieweit das Konzept Kaufhaus heute noch funktioniert: Solange in der Logistik keine anständigen Löhne bezahlt werden, wird der stationäre Einzelhandel den Preisnachteil gegenüber dem Online-Handel kaum mit noch so kreativen Konzepten ausgleichen können. Das ist einfach kein fairer Wettbewerb. Wer als Kunde seine Bestellungen kostenlos hin und herschicken kann, sooft er Lust und Laune hat, geht nicht mehr in die Innenstadt. Wenn dem Paketboten ein vernünftiger Tariflohn bezahlt werden müsste, sähe die Geschichte vielleicht schon etwas anders aus.
Warum ändern Sie an diesem Preisdumping nichts?
Wenn der gewerkschaftliche Organisationsgrad in einer Belegschaft gering ist und das Unternehmen kein Mitglied in einem Arbeitgeberverband, funktioniert unser bewährtes System der Sozialpartnerschaft nicht mehr. Der gesetzliche Mindestlohn war ja schon eine erste staatliche Reaktion auf diese Entwicklung. Aber mit Scheinselbstständigkeiten wird selbst der ausgehöhlt. Vielleicht benötigen wir weitere Instrumente.
Zum Beispiel?
Unser Arbeitszeitgesetz ist etwa 30 Jahre alt. Das passt längst nicht mehr zu allen Bereichen unserer heutigen Berufswelt mit vielen neu entstandenen Branchen und flexiblen Arbeitszeiten. Ich finde, es lohnt sich darüber nachzudenken, ob wir das Arbeitszeitgesetz mit einer Abweichklausel versehen könnten. Die staatlichen Regeln dürften dann nur Branchen für sich anpassen und besser nutzen, die über ordentliche Tarifverträge verfügen. Das würde neue Anreize schaffen, sich in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu organisieren.
Bald jährt sich zum dritten Mal der erste Corona-Fall in NRW. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Zeit zurück?
Es waren drei schwere Jahre, in denen wir immer zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitseingriffen abwägen mussten. Im Nachhinein ist man immer schlauer, aber alles in allem sind wir nicht so schlecht durch diese Zeit gekommen. In NRW wurde keine Corona-Schutzverordnung von Gerichten gekippt, so dass ich meine, dass wir die Verhältnismäßigkeit gewahrt haben. Mit einer Ausnahme, die mich bis heute beschäftigt: Es war ein Fehler, dass wir zu Beginn der Pandemie zur Eindämmung von Infektionsketten strenge Isolationsregeln in Altenheimen und Krankenhäusern durchgesetzt haben. Da sind Menschen einsam gestorben, das kann man nicht mehr gutmachen.
Betrachten Sie, ähnlich wie Ihr Kollege Lauterbach, auch die Schulschließungen als Fehler?
Ja, das wissen wir heute, aber alle haben schon wieder vergessen, in welcher Lage das Land damals war. Wir hatten anfangs keinen Impfstoff, wir hatten nur selbstgebastelte Masken, wir wussten über das Virus noch nicht viel und sollten Infektionsketten schnell stoppen. Ein großer Teil der Wissenschaftler, der Eltern und der Lehrkräfte war unbedingt dafür, die Schulen zu schließen. Der andere war strikt dagegen. Als Minister kannst Du in dem Fall machen, was Du willst, die Torte hast Du immer im Gesicht.
Wie bitter ist es, dass NRW Corona-Schutzausrüstung womöglich verbrennen muss?
Natürlich täte es sehr weh, Schutzausrüstung vernichten zu müssen, für die man vor gar nicht so langer Zeit Tag und Nacht kämpfen und viel Geld bezahlen musste. Das Haltbarkeitsdatum von Teilen unserer noch eingelagerten Masken und Kittel wird in den kommenden Monaten verfallen, aber es ist noch nicht verfallen. Deshalb bin ich froh, dass sich bei uns Organisationen gemeldet haben, die Hilfstransporte in die Ukraine starten. Es ist vollkommen klar, dass wie dort, wo rechtlich möglich, auch unbürokratisch helfen werden. Da gilt natürlich auch für Organisationen, die Menschen in den Erdbebengebieten in Syrien und der Türkei helfen wollen. Sie können sich bei uns melden.
Werden Sie die weitere Corona-Entwicklung beobachten?
Wenn demnächst die Teststellen nach dem Auslaufen der Finanzierung verschwinden, haben wir mit dem Abwassermonitoring noch ein Instrument, um Veränderungen beim Infektionsgeschehen frühzeitig erkennen zu können. Darüber hinaus aber finde ich, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem wir den Umgang mit der Krankheit nicht mehr staatlich regeln müssen. Das liegt jetzt in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Es gibt doch keine Infektion, die in der Mitte der Gesellschaft so gut bekannt ist wie Corona. Wenn ich zwei Striche auf meinem Selbsttest habe, bleibe ich ein paar Tage zuhause, weil ich meine Kolleginnen und Kollegen im Büro nicht anstecken will.