Düsseldorf. Die grüne Integrationsministerin Josefine Paul sagt, welche Lehren sie aus den Silvester-Krawallen zieht und welche ausdrücklich nicht.

Drei Wochen nach den Silvester-Krawallen ärgert sich NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) noch immer darüber, wie reflexhaft die Politik die immer gleichen Debatten über Parallelgesellschaften aufruft. Welche Lehren sie dagegen zieht, sagte die 40-Jährige im Gespräch mit Tobias Blasius.

Welchen Reim machen Sie sich mit ein wenig Abstand auf die teilweise erschreckenden Bilder?

Wir haben zum Jahreswechsel in einigen nordrhein-westfälischen Städten einen Gewaltausbruch erlebt, der völlig inakzeptabel ist und Konsequenzen haben muss. Die strafrechtliche Verfolgung der Übergriffe auf Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten läuft ja auch längst. In der Ursachenanalyse werbe ich für einen differenzierten Blick. Eine reflexhafte Integrationsdebatte zielt jedenfalls am Kern des Problems vorbei.

Wollen Sie etwa bestreiten, dass ein Gutteil der Tatverdächtigen Migrationshintergrund hatte?

Ich bestreite gar nichts, sondern empfehle, zunächst einmal die Ermittlungsergebnisse abzuwarten. Vorher und ganz grundsätzlich sollten wir nicht so tun, als würde allein der Vorname eines Tatverdächtigen oder die Herkunft der Eltern irgendetwas erklären. Aus Analysen von Fachleuten wissen wir, dass gewaltbereites Verhalten immer eine Vielzahl an Einflussfaktoren hat. Dazu gehören Männlichkeitsvorstellungen und soziale Rahmenbedingungen, die unabhängig vom Migrationshintergrund eine große Rolle spielen. Auch Alkoholkonsum, eine allgemein um sich greifende Respektlosigkeit gegenüber staatlichen Repräsentanten oder gruppendynamische Prozesse in bestimmten Freundeskreisen sind zu beachten. Hier sind wir als Politik, aber auch als Gesellschaft gefordert, Antworten zu finden.

Warum sperren Sie sich so gegen die Integrationsdebatte, die nach den Silvester-Krawallen eingesetzt hat?

Wir tun uns keinen Gefallen damit, immer eine große gemeinsame Klammer zu suchen für ein Problem, das keine gemeinsame Klammer hat. In Nordrhein-Westfalen leben fünf Millionen Menschen mit internationaler Geschichte, die oftmals nicht Hans oder Peter heißen. In der Gruppe der 6- bis 18-Jährigen haben sogar über 40 Prozent Migrationshintergrund. Im Zusammenhang mit den Silvester-Vorfällen ist das aber gar nicht unser Thema. Unser Thema muss die soziale Frage sein, also, was Menschen dazu bewegen kann, Einsatzkräfte, die nur helfen wollen, mit Pyrotechnik zu beschießen.

Sind also nicht die „kleinen Paschas“ das Problem, wie CDU-Chef Merz meint, oder dass auf Schulhöfen zu wenig Deutsch gesprochen wird?

Klischees und Pauschalisierungen helfen überhaupt nicht weiter, denn sie senden an die vielen Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land nur das völlig falsche Signal aus: Ihr könnt machen, was ihr wollt, so ganz gehört ihr doch nicht dazu. Genauso abwegig ist die immer wiederkehrende Forderung an Migrantinnen und Migranten, sie sollten sich zu Vorfällen wie den Silvester-Krawallen erklären oder öffentlich distanzieren. Ich hatte gehofft, dass wir in einer modernen Einwanderungsgesellschaft solche Debatten nicht mehr führen müssten.

Brauchen wir härtere Strafen bei Angriffen auf Einsatzkräfte?

Ich halte nichts davon, immer gleich nach härteren Strafen zu rufen. Der Strafrahmen ist erst vor wenigen Jahren angehoben worden, das allein schreckt also niemanden ab. Es kommt auf konsequente Strafverfolgung und schnelle Verfahren an, damit die Verantwortlichen die Folgen von gewalttätigem Handeln sofort spüren.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Wir müssen als Gesellschaft Strukturen schaffen, die Integration und Teilhabe für alle ermöglichen. Konkret bedeutet das, Bildungs- und Teilhabechancen gerade in prekären Stadtvierteln zu erhöhen. Der IQB-Bildungstrend hat uns zuletzt das besorgniserregende Ergebnis gebracht, dass die Schere zwischen Kindern mit Zuwanderungsgeschichte und aus sozioökonomisch benachteiligten Familien gegenüber Kindern aus privilegierteren Familien weiter aufgegangen ist. Wir werden daraus unsere Schlüsse ziehen und zum Beispiel prüfen, wie wir Angebote der die frühkindlliche Bildung, aber im Übrigen auch der Jugendarbeit und Familienbegleitung, gerade in prekären Stadtteilen gezielt stärken und die Angebote zur alltagsintegrierten Sprachförderung in den Kindertagesstätten erweitern können.

Die Lage wird mit den zurzeit hohen Flüchtlingszahlen nicht einfacher. Wie können Sie helfen?

Das zynisches Kalkül der russischen Kriegsführung, mit gezielter Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine möglichst viele Menschen in die Flucht zu treiben und damit auch die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren, ist bislang gescheitert. Wir stehen auch weiter solidarisch an der Seite der Ukraine. Unsere Kommunen und Hilfsorganisationen, aber auch jede Menge ehrenamtlich Engagierte haben in bewundernswerter Solidarität dafür gesorgt, dass Tausende Geflüchtete bei uns Schutz gefunden haben. Aber die Unterstützung von Bund und Ländern muss weitergehen.

Wie?

Als Land müssen wir unsere Aufnahmekapazitäten konsequent weiter ausbauen, um einen Puffer bei der Erstversorgung zu haben. In diesem Zusammenhang ärgert es mich sehr, dass der Bund uns 38 Liegenschaften angeboten hat, von denen wir nur drei überhaupt in die Prüfung nehmen konnten. Teilweise handelte es sich um unerschlossene Brachen, mit denen wir den Kommunen kurzfristig nicht helfen können. Da erwarten wir vom Bund, dass nachgebessert wird.

Viele Kommunen berichten, dass langfristige Finanzhilfen für die Integrationsarbeit von der Schule bis zum Arbeitsmarkt noch wichtiger seien. Wie helfen Sie hier?

Nach der akuten Versorgung wird die Integration vor Ort gestaltet, und das kann den Kommunen ohne weitere Hilfen von Bund und Land nicht gelingen. Ich erwarte, dass bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz im April darüber gesprochen wird, wie sich der Bund dauerhaft und stetig an den Kosten von Integration beteiligt. Wir brauchen eine Art ‚Flüchtlingspaket Plus‘, denn Integration ist eine kommunale Daueraufgabe und bedeutet weit mehr als Hilfen zur Unterbringung.