Düsseldorf. Krieg und Energiekrise bürden der neuen NRW-Wirtschaftsministerin einen Stresstest für grüne Gewissheiten auf. Wie sie damit umgeht.
Wenn Mona Neubaur in ihren ersten Amtswochen als nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin etwas verinnerlicht hat, dann dies: Impulskontrolle. Die 45-jährige Grünen-Politikerin steht mit einem Honigglas in der Hand vor einer Wildblumenwiese auf dem ehemaligen Kokerei-Gelände des Essener Welterbes „Zollverein“. Geduldig lässt sie sich erklären, wie an diesem Gewerbestandort auf Nachhaltigkeit und Artenvielfalt geachtet werde. Es ist der vierte Außentermin zur sogenannten Kreislaufwirtschaft an diesem Tag. Sie ist spät dran, es ist heiß und permanent surrt irgendetwas um sie herum.
„Ich versuche, nicht nach den Wespen zu schlagen“, ermahnt sich Neubaur halblaut. Ein solcher Shitstorm fehlte gerade noch: Grüne Vize-Ministerpräsidentin tötet Insekt vor Blühstreifen. Bloß keinen Reflexen nachgeben, Haltung wahren, kühler Kopf – das sind aktuell ihre wichtigsten Übungen.
Macht gut abgesichert, aber Unmut in Vorfeldorganisationen
Der Ukraine-Krieg und die Energiekrise haben Neubaurs Amtsantritt stärker überlagert, als sie es nach dem umjubelten 18,2-Erfolg der Grünen bei der Landtagswahl im Mai vermutlich selbst für möglich gehalten hätte. Professionell führte die im altbayerischen Pöttmes geborene Diplom-Pädagogin ihre Partei in die erste schwarz-grüne Landesregierung in NRW. Sie nahm es hin, dass all die inszenierten Traumduo-Bilder mit ihrem neuen Duzfreund Hendrik Wüst nicht bei allen Stammwählern gut ankamen. Im Kabinett installierte sie Vertraute wie den Umwelt- und Verkehrsminister Oliver Krischer, in Partei und Landtagsfraktion wirkt ihre Macht ebenfalls gut abgesichert.
Nun muss Neubaur aber gleich in Serie Dinge vertreten, die ihre Partei immer abgelehnt hat: Mehr Kohlestrom, militärische Gewalt, Aufrüstung der Bundeswehr, demnächst wohl auch einen „Streckbetrieb“ für die letzten Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus. Nicht einmal gegen die verhassten „Bröckelreaktoren“ in den Nachbarländern kann man mehr agitieren, weil deren Strom noch nützlich werden dürfte.
Neubaur will "akut, pragmatisch agieren"
„Es ist für alle Menschen eine Zeit der Zumutungen“, sagt Neubaur. Arbeitnehmer, Unternehmer, Mieter, Flüchtlinge, Umweltschützer – alle hatten Ziele und Pläne, die durch den russischen Angriffskrieg durchkreuzt wurden. Sie müsse als Wirtschaftsministerin „akut, pragmatisch agieren“, findet sie. „Es gibt eine Sache, die ist größer als ein Parteitagsbeschluss. Und richtig ist trotzdem, seine Haltung nicht zu verlieren.“
Neubaur ist keine so gute Erzählerin wie ihr Parteifreund Robert Habeck, zu dem sie ein enges Verhältnis pflegt. Sie neigt zu Schachtelsätzen mit dem soziologischen Pathos der ehemaligen Referentin der Heinrich-Böll-Stiftung und sagt schon mal Begriffe wie „Abfallverwertungsrückgewinnungsproblem“. Aber ihre Argumentation ist ähnlich: Der Ukraine-Krieg zwingt uns, Überzeugungen in die Warteschleife zu schicken, aber die langfristige Lösung sind umso mehr die erneuerbaren Energien.
Sie gewinnt durch ihre unprätentiöse Art, nicht mit Erzähltalent
Neubaur gewinnt durch ihre unprätentiöse Art. Die meist ganz in Schwarz gekleidete Ministerin trinkt beim Termin in Essen Wasser aus der Flasche und fragt: „Darf ich Fragen stellen?“ Sie versucht, beim Aufreißen eines Pakets zu helfen und lacht, als sie kapitulieren muss: „Die Fingernägel der Ministerin sind nicht ausreichend.“
Es bleibt dennoch ein Stresstest für grüne Gewissheiten. Neubaurs Problem sind derzeit nicht die Mehrheitsverhältnisse im Land. Die meisten sehen ja die Zwänge der Politik im Zeichen der Energiekrise und bescheren den Habeck-Baerbock-Grünen für ihren Pragmatismus höchste Zustimmungswerte. Laut ARD-Deutschlandtrend pochen bloß noch 15 Prozent aller Bundesbürger auf einen geplanten Atomausstieg Ende des Jahres. Nur: Es dürften genau jene 15 Prozent sein, die noch da sein sollen, wenn die neuen Grünen-Sympathisanten im Ärger über kalte Wohnzimmer und Kurzarbeit wieder weg sind. „Es ist für Politikerinnen und Politiker natürlich auch eine Zumutung, nicht den einen Hebel zu wissen, mit dem man alles heilen kann“, sagt Neubaur entschuldigend.
Welche Vermittlungsaufgabe auf der NRW-Wirtschaftsministerin lastet, lässt sich im Rheinischen Braunkohlerevier beobachten. In dieser Woche bekam Neubaur wütende Post von Klimaschützern, die sie ultimativ aufforderten, den Erkelenzer Stadtteil Lützerath vor den Baggern des Energieriesen RWE zu retten. Das Dorf ist längst ein Symbolort der Aktivisten wie 2018 der Hambacher Forst. Und mittendrin diesmal die Grünen, die für Recht und Ordnung sorgen sollen.
Lützerath als Hambi 2 - und die Grünen mittendrin
Umweltminister Krischer hat zwar bereits öffentlich darauf hingewiesen, dass die Sache ausgeurteilt sei und der Konzern das Recht habe, die Kohle unter dem Dorf zu verstromen. Das hielt die grüne Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger dieser Tage jedoch nicht davon ab, sich mit einer Schaufel gegen die Einfriedung der verwaisten Ortschaft zu wehren. Im Oktober beginnt die Rodungssaison.
Neubaur hat schon in Oppositionszeiten ihre Partei ermuntert, die Komfortzone zu verlassen und sich nie selbst genug zu sein. Im neuen Amt will sie NRW „die Angst davor zu nehmen, das Grüne irgendwie schwierig sind für die Wirtschaft“. An den Befindlichkeiten der eigenen ur-grünen Vorfeldorganisationen lässt sich aber wohl nicht dauerhaft vorbeiregieren.
Es ist ein anstrengender Spagat. Irgendwann in Essen drängt eine Mitarbeiterin zum Aufbruch und reicht Neubaur zwei Handys. Ein wichtiges Telefonat müsse in ihrer Dienstlimousine geführt werden. Drei Kilometer von „Zollverein“ entfernt sieht man die Ministerin mit ihrem Fahrer am Straßenrand stehen. Erstmal eine rauchen.