Essen. Eine Woche ohne Sirenen und Explosionen - 30 Studentinnen bereisten auf Einladung der Unis das Ruhrgebiet. Im Gepäck: Die Sorgen um die Heimat.
Sie kommen aus Kiew, Mariupol, Donezk, Lwiw oder Krivoj Rog. Den Krieg haben die jungen Frauen hören, sehen und erleben müssen. Freunde und Familien sind geflohen, doch Brüder und Väter und auch ihre Mitstudenten mussten bleiben. „Sie müssen kämpfen“, sagt Kateryna Ischtschenko (19) aus Winnyzja. Auch wenn die jungen Frauen fröhlich zusammenstehen, plaudern und lachen – die Angst reist mit. „Hier ist es so ruhig“, sagt Iryna Maykolajchuk aus Kiew. „Aber wenn wir ein Flugzeug hören oder einen lauten Knall, dann erschrecken wir uns.“, sagt die 20-jährige Germanistikstudentin. Eine Woche Urlaub vom Krieg.
„Unsere Stadt und natürlich auch die Universität sind vollkommen zerstört“, sagt Yulia Kolmakova (23) aus Mariupol und wird dabei sehr ernst. Ihre Heimatstadt wird nach schweren Kämpfen seit Ende April von russischen Streitkräften kontrolliert. Die Hochschule wurde zuvor nach Kiew verlegt, wo sie jetzt ihr Studium fortsetzt, erzählt sie. „Die Kämpfe waren am Anfang des Krieges sehr nahe. Doch derzeit fallen dort nicht mehr viele Raketen“, sagt sie.
Erste Uni-Partnerschaft mit Kiew
Gemeinsam mit rund 30 Kommilitoninnen und ihren Dozentinnen bereist die Studentin auf Einladung der drei Ruhr-Universitäten neun Tage lang das Ruhrgebiet. Anlass ist die erste Universitätspartnerschaft der Ruhr-Universität Bochum mit der Universität Kiew. Damit wollte Rektor Martin Paul mitten im russischen Angriffskrieg ganz bewusst ein Zeichen setzen. „Ich bin froh und stolz, dass es uns gelungen ist, diese erste Summer School der Universitäts-Allianz Ruhr für Studierende aus der Ukraine mit vereinten Kräften auf die Beine zu stellen“, sagte Rektor Paul.
Die Germanistik-Studentinnen besuchten die drei Universitäten und die bekannten Sehenswürdigkeiten des Reviers. Campustouren, Workshops, Gespräche mit den Rektoraten sowie das Museum Folkwang in Essen und das Planetarium in Bochum waren Teil der „Summer School“. Am Freitag stand die Zeche Zollverein auf dem Programm. „Bei uns gibt es auch Zechen, aber die sehen anders aus“, sagt Kateryna, während sie staunend die lange Rolltreppe zum Besucherzentrum der Zeche hinaufgleitet.
„Hier ist es so ruhig“
„Mit unserem Angebot wollen wir bestehende Kooperationen mit ukrainischen Universitäten stärken und nach Möglichkeit neue anbahnen“, sagt Elena Resch vom International Office der Ruhr-Uni, die die Gruppe begleitet. Zugleich sollen die jungen Studentinnen, gerade in diesen düsteren Zeiten, die Möglichkeit erhalten, das Ruhrgebiet und seine Universitäten kennenzulernen, so Resch.
Urlaub vom Krieg. „Hier ist es friedlich, wir fühlen uns sicher“, sagt Valeriia Tyshchenko (19) aus Krivoj Rog, eine Großstadt in der südlichen Ukraine. „Seit sechs Monaten erleben wir Sirenen, Alarm, Explosionen und Angst. Das macht etwas mit unserer Psyche.“ Die 19-jährige Yarina Shpyrko aus Lemberg stimmt ihr zu: „Es ist ungewohnt, dass es hier so friedlich ist. Dafür sind wir sehr dankbar.“
Viele wollen wieder nach Hause
Nach dem Aufenthalt wollen die meisten der 30 Studentinnen wieder zurück – entweder zu ihren ins Ausland geflohenen Familien oder in die Ukraine. „Ich wollte immer gerne im Ausland leben“, erzählt Iryna. „Aber wir können nicht alle weglaufen. Ich habe in den letzten Monaten gespürt, wie stark wir gemeinsam sind“, sagt sie. Sie möchte die Ukraine nicht verlassen. „Nach dem Krieg werden wir ein neues und moderneres Land aufbauen.“
Valeriia nickt. „Wenn alle geflohen sind, wer soll dann noch helfen?“ Aber nicht alle müssten kämpfen, als Lehrerin zu arbeiten und Kinder zu unterrichten, „das ist auch wichtig“, sagt sie 19-Jährige. „Wir sind dankbar für diese Zeit und für die Gelegenheit, Deutschland zu besuchen“, sagt Iryna. Auch für die Unterstützung Deutschlands im Krieg seien alle dankbar. „Doch es müsste viel schneller gehen“, findet sie. „Jeden Tag sterben Soldaten, Zivilisten und Kinder in der Ukraine.“
Land unterstützt die Hochschulen
Wie viele ukrainische Studierende derzeit in NRW eine Hochschule besuchen, ist schwer zu beziffern. Das Wissenschaftsministerium habe dazu keine aktuellen Zahlen, heißt es auf Nachfrage. Mit 40 Millionen Euro unterstütze das Land die Hochschulen seit 2016 bei der Betreuung von Geflüchteten.
Vor dem Krieg waren in der Ukraine knapp 1,6 Millionen Studierende eingeschrieben, viele von ihnen sind geflohen. Nach aktuellen Zahlen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) haben bis Juni etwa 21.000 Ukrainer und Ukrainerinnen ein Studieninteresse geäußert. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) rechnet allerdings mit weit höheren Zahlen. Die Schätzung von 100.000 geflüchteten Studierenden, die in Deutschland ihr Studium fortsetzen wollen, hält der DAAD weiterhin für realistisch. Die HRK erinnert daran, dass dafür Sprachkurse, Wohnungen und Lehrkräfte benötigt werden.
Ob die ukrainischen Gast-Studentinnen noch einmal zurück ins Ruhrgebiet kommen, ist offen. „Ich würde sehr gerne meinen Master an der Uni Essen machen“, verrät Valeriia. Yulia sagt leise: „Ich träume davon, eines Tages nach Mariupol zurückzukehren.“ Und dann fließen Tränen.