Essen. Im jüngsten Armutsbericht kommt das Ruhrgebiet mal wieder schlecht weg. Manche halten den Befund des Paritätischen freilich für alarmistisch.

Armut frisst sich seit der Corona-Pandemie immer tiefer in die Gesellschaft hinein. Das jedenfalls behauptet der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) in seinem kürzlich erschienen „Armutsbericht“. Doch was steckt eigentlich hinter dem alarmierenden Befund? Und gibt es auch andere Sichtweisen? Ein Überblick.

Was steht im Armutsbericht?

Nach den jüngsten Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist die soziale Ungleichheit durch die Corona-Krise in NRW erneut angewachsen. Mit 18,7 Prozent lag die so genannte Armutsgefährdungsquote an Rhein und Ruhr gegenüber dem Vorjahr (17,6 Prozent) nochmals höher, wie der Verband Ende Juni bei der Vorstellung des „Armutsberichts 2022“ mitteilte. Bundesweit liegt die Quote demnach bei 16,6 Prozent. Die geringste Armutsquote unter den Bundesländern hat Bayern (12,6 Prozent), Schlusslicht ist Bremen (28 Prozent). Und das Ruhrgebiet? Bleibt mit einer Armutsquote von 21,1 Prozent „eine der bundesweiten Problemzonen“, sagt der Sozialverband.

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Was überhaupt ist die Armutsgefährdungsquote?

Die Armutsgefährdungsquote ist ein Maßstab zur Messung relativer Einkommensarmut. Sie wird einem EU-Standard entsprechend definiert als der Anteil der Personen, deren Einkommen weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens in einem Land oder einer Region beträgt. Das Durchschnittseinkommen (wissenschaftlich korrekt: Äquivalenzeinkommen) wird nach einem komplizierten Verfahren als Pro-Kopf-Einkommen ermittelt. Dabei wird den in einem Haushalt lebenden Personen ein unterschiedliches „Bedarfsgewicht“ zugeschrieben, weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen. Erwachsene beispielsweise werden stärker gewichtet als Kinder.

Werden regionale Unterschiede gemacht?

Den Armutsgefährdungsquoten für Bund, Länder und Regionen liegt eine einheitliche Armutsgefährdungsschwelle zugrunde. Regionale Unterschiede im Einkommensniveau werden im DPWV-Armutsbericht also nicht berücksichtigt. Bundesweit liegt die Armutsgefährdungsschwelle laut Verband bei monatlich 1148 Euro für den Singlehaushalt, für Alleinerziehende mit einem kleinen Kind bei 1492 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2410 Euro.

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Woher hat der DPWV seine Zahlen?

Die Armutsquoten beruhen auf dem sogenannten Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Der Mikrozensus ist eine Art kleine Volkszählung. Nach Angaben des Verbandes befragt der Mikrozensus stichprobenartig jährlich etwa ein Prozent aller Haushalte in Deutschland, etwa 370.000 Haushalte mit 810.000 Personen. Die Zahlen im aktuellen Armutsbericht basieren auf den Erstergebnissen des Mikrozensus 2021.

Welche Kritik gibt es an den Daten?

Zwar hatte zuletzt eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung die gängigen Definitionen von arm, prekär, wohlhabend und reich und deren Schwellengrenzen weitgehend bestätigt. Dennoch bleiben bei der Definition des Armutsbegriffes und die Grenzziehung der Armutsquote Fragen. Eine methodische Umstellung des Mikrozensus vor zwei Jahren und eine hohe Quote an Nichtbeantwortungen relativierten die Aussagekraft der Daten, sagt etwa Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Er hält die Schlüsse, die der Wohlfahrtsverband aus dem aktuellen Armutsbericht zieht, für „alarmistisch“. Seit 2005 habe sich die Einkommensungleichheit in Deutschland nicht wesentlich verändert. „Und seit der Pandemie bewegen wir uns im Blindflug“, so Schröder im Gespräch mit dieser Redaktion.

Welche Rolle spielt der Wohnort?

Ein Problem ist das Durchschnittseinkommen, dass sich etwa auch dann verändert, wenn nicht nur die breite Mehrheit reicher wird, sondern nur einige Superreiche. Beispiel: Würden in eine Kleinstadt plötzlich viele schwerreiche Fußballstars ziehen, könnte dort selbst der gut verdienende Reihenhausbesitzer statistisch schnell unter die Armutsgrenze rutschen. Ein guter Beleg dafür ist die Armutsgefährdungsquote auf Stadtebene. Nur am Durchschnittseinkommen der eigenen Bevölkerung gemessen hat München fast dieselbe Armutsquote (19,4) wie Dortmund (19,8), obwohl die bayrische Landeshauptstadt zu den reichsten und teuersten Städten Europas gehört. „Wenn man dann noch die Unterschiede in den Lebenshaltungskosten berücksichtigt, etwa den Mieten, dann ist München plötzlich nicht mehr der ganz große Musterknabe“, so IW-Experte Schröder. Nach dem Bundesdurchschnitt liegen zwischen beiden Städten dagegen Welten. (München: 11,3, Dortmund: 24,5). Unterschiede ergeben sich auch beim Vergleich auf Landesebene (siehe Grafik). Ein weiterer Kritikpunkt: Die Armutsquote berücksichtigt nur das Einkommen, keine Vermögen. Ein Multimillionär ohne regelmäßiges Einkommen wäre also armutsgefährdet.

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Wie reagiert das Ruhrgebiet?

Dass das Ruhrgebiet in Einkommens- und Sozialrankings meist das Schlusslicht bildet, wird in der Region mehr und mehr verschnupft aufgenommen. Auch diesmal ist etwa der Regionalverband Ruhr nicht gerade begeistert über die Ergebnisse des neuen Armutsberichtes. „In seiner langjährigen Integrationsgeschichte und mit seiner integrativen Kraft hat das Ruhrgebiet schon viel geleistet. Das wird leider viel zu wenig gewürdigt“, sagte RVR-Regionaldirektorin Karola Geiß-Netthöfel dieser Redaktion. Bildung sei und bleibe bei der Armutsbekämpfung der Schlüssel zum Erfolg. Geiß-Netthöfel: „Um entsprechende Angebote machen zu können, brauchen die Kommunen im Ruhrgebiet mehr Unterstützung von Bund und Land.“

Welche Bedeutung hat die Mindestsicherungsquote?

Ein anderer Indikator dafür, wie arm oder wohlhabend eine Region ist, kann auch die Zahl der auf staatliche Grundsicherung angewiesenen Menschen sein. In NRW waren das Ende 2020 rund 1,9 Millionen. Im Länderranking nimmt Nordrhein-Westfalen dabei auf den ersten Blick eine wenig schmeichelhafte vordere Position ein. Im Nachbarland Rheinland-Pfalz lag die Mindestsicherungsquote bei 6,7 Prozent (2019), in Bayern sogar nur bei 4,5 Prozent. Allerdings haben sich die NRW-Zahlen zumindest bis Ende 2020 verbessert. Gegenüber dem Vorjahr erhielten fast 10.000 beziehungsweise 0,5 Prozent weniger Menschen Mindestsicherungsleistungen wie Arbeitslosenhilfe, Grundsicherung im Alter oder Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Nach Angaben des Statistisches Landesamtes war damit etwa jeder neunte Einwohner (10,9 Prozent) des Landes auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen. Gegenüber 2019 blieb die Quote gleich, Ende 2018 lag sie noch bei 11,3 Prozent.

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Schaut man in die Regionen hinein, ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen Quote und Lebensumfeld. Wie bei der Armutsquote sind auch bei der Mindestsicherungsquote Städte stärker betroffen als das Land. Die guten Zahlen von Rheinland-Pfalz relativieren sich da schnell: Kaiserslautern liegt bei der Quote auf Bochumer Niveau. In den ländlichen Regionen beider Länder gleichen sich die Zahlen auf deutlich niedrigerem Niveau ebenfalls. Nicht von Ungefähr liegen die drei Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg deutlich vor allen anderen Bundesländern. Eine Mindestsicherungsquote von 22 Prozent wie in Gelsenkirchen sucht freilich weit und breit ihresgleichen.