Düsseldorf. Im Ruhrgebiet dürfen jetzt mehr Hausärzte arbeiten. Aber sie bevorzugen bestimmte Städte und Quartiere. Andere gehen leer aus.
Seit vier Jahren dürfen sich im Ruhrgebiet mehr Hausärztinnen und Hausärzte ansiedeln als zuvor. Der bis 2018 geltende „Sonderstatus“, der die Zahl der Hausärzte im Revier stark begrenzte, wird seitdem schrittweise zurückgenommen. Doch die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung kommt laut Recherchen dieser Redaktion nicht so voran, wie erhofft.
„Die Anzahl der neuen Praxissitze wurde mangels Mediziner-Nachwuchs nicht komplett besetzt. Der Zuwachs an jungen Praxen ist moderat“, erklärte der Hausärzteverband Nordrhein auf Nachfrage. Weil in den kommenden Jahren sehr viele ältere Hausärzte in den Ruhestand gehen dürften, werde die Nachbesetzung der Praxen im Ruhrgebiet wohl noch schwieriger, sagt der Verband voraus.
Es könnten mehr Ärzte im Revier arbeiten
Im westfälischen Teil des Ruhrgebiets – dazu zählen zum Beispiel Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen und Hamm – gibt es laut der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) heute insgesamt 63 Hausärzte mehr als im Jahr 2018. Die Zulassungsmöglichkeiten haben sich in diesem Zeitraum aber auf 150 erhöht. Es könnten also noch viel mehr Ärzte dort arbeiten.
Im westlichen Ruhrgebiet, zum Beispiel in Essen, Duisburg, Oberhausen, stellt sich die Lage ähnlich dar: Die Zahl der Hausärztinnen und Hausärzte stieg in vier Jahren im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) um 71. Dem stehen 107 Niederlassungsmöglichkeiten gegenüber.
Große Unterschiede sogar innerhalb einer Stadt
Lars Rettstadt, Vorstandsmitglied des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe und selbst Hausarzt in Dortmund, betont, dass es selbst innerhalb der Ruhrgebietsstädte unterschiedlich schwer sei, Interessenten für einen hausärztlichen Sitz zu finden. „In Dortmund etwa sind Standorte südlich der Bundesstraße 1 einfacher zu besetzen als nördlich der B1. Grund dafür ist das soziale Gefälle auch innerhalb einer Stadt“, erklärt der Mediziner. Hausärzte interessierten sich für eine gute Infra- und Sozialstruktur und auch für „reichhaltige kulturelle Angebote“.
Der Anfang vom Ende des hausärztlichen „Sonderstatus“ für das Ruhrgebiet scheint insbesondere an der Stadt Hamm vorbeizugehen. Dort ging die Zahl der Hausärzte seit 2018 sogar zurück: von 98 auf 89. In Gelsenkirchen blieb die Versorgungslage praktisch unverändert, in der Universitätsstadt Bochum werden heute von der KVWL 17 Hausärzte mehr gezählt.
Rettstadt schlägt vor, sich nicht nur auf die Landärzte zu konzentrieren. Um die medizinische Versorgung der Menschen auf dem Lande zu verbessern, wurde in NRW eine Landarztquote eingeführt: Ein Teil der Medizinstudierenden verpflichtet sich, nach der Ausbildung auf dem Lande zu arbeiten. Eigentlich müsste es eine solche Maßnahme auch für die „sozialen Brennpunkte unserer Städte“ geben, findet Rettstadt. „Diese Standorte sollten aus unserer Sicht vom Land genauso gefördert werden, wie die ländlichen Gebiete.“
Hier wichtige Fragen und Antworten zum Thema:
Warum gab es den Sonderstatus?
„Sonderstatus“ ist auf den ersten Blick ein Begriff, der einen Vorteil suggeriert. Tatsächlich war der Sonderstatus des Ruhrgebiets bei der ärztlichen Versorgung ein Nachteil. Denn er sah vor, dass im Revier weniger Haus- und Fachärzte sowie Psychotherapeuten arbeiten durften als in ländlicheren Regionen. Dahinter steckte die Überlegung, dass im Ruhrgebiet die Städte praktisch nahtlos ineinander übergehen, dass es dort viele Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen gibt sowie recht gute Verkehrsanbindungen.
Ein Bochumer könne sich also auch in Herne behandeln lassen, eine Dortmunderin in Unna. Dieser Sonderstatus wird allerdings seit 2018 schrittweise aufgehoben. In einem Gutachten war zuvor festgestellt worden, dass die Ärzte im Ruhrgebiet deutlich mehr Patienten behandeln müssen als ihre Kollegen in anderen Ballungszentren in Deutschland.
Was bedeutet „schrittweise Aufhebung“ des Sonderstatus?
Seit Anfang 2018 wird im Bereich des Regionalverbandes Ruhr (RVR) die Verhältniszahl für Hausärzte (Hausarzt pro Einwohner) alle zwei Jahre auf das bundeseinheitliche Niveau von einem Hausarzt je 1607 Einwohner abgesenkt. In den Jahren 2018 und 2019 war das Verhältnis 1:1926, aktuell ist es bei 1:1779, für 2027 wird die Verhältniszahl 1: 1683 angestrebt.
Liegt das Ruhrgebiet im Plan?
Was die Zahl der Niederlassungsmöglichkeiten zum Beispiel für Hausärzte betrifft, ja. Zum Beispiel wurden im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) zuletzt 64,5 Niederlassungsmöglichkeiten freigegeben. Davon profitieren vor allem Duisburg (19,5), Essen (9,5), Mülheim (7,5) und Oberhausen (7). Kamp-Lintfort galt zuletzt allerdings weiterhin als „überversorgt“ und war für weitere Hausarzt-Niederlassungen gesperrt.
Gibt es denn tatsächlich mehr Hausärzte im Ruhrgebiet?
Ja, aber nicht so viele wie es sein könnten. „Im Ruhrgebiet stellen mittlerweile mehr Hausärztinnen und Hausärzte die Versorgung für weniger Einwohner sicher“, erklärt die KVNO. Aber es lohnt ein Blick in einzelne Revierstädte, zum Beispiel im westfälischen Teil des Ruhrgebietes. „Besonders die großen Städte haben vom Zuwachs profitiert, insbesondere in Universitätsnähe (Bochum, Dortmund, Herne und Witten), während andere Städte im Ruhrgebiet sogar einen Rückgang der Arztzahl erleben. Dies betrifft derzeit am stärksten Hamm“, so die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL).
Auch innerhalb der Städte gibt es zum Teil deutliche Unterschiede. Im Norden Dortmunds ist die hausärztliche Versorgung schlechter als im wohlhabenderen Süden dieser Stadt. Die Bundesstraße 1/Autobahn A40, oft als „Sozialäquator“ bezeichnet, hat offenbar auch einen Einfluss auf die Bereitschaft von Ärzten, sich im Revier anzusiedeln.
Außerdem hat der westfälische Teil des Ruhrgebiets etwas mehr Schwierigkeiten beim Besetzen von Arztpraxen als der rheinische Teil. „Das westfälische Ruhrgebiet hat zwei Probleme: Zum einen geht es dort schon deutlich in den ländlichen Bereich, zum anderen ist es auch von der Sozialstruktur nicht so stark wie andere Standorte“, erklärt der Hausärzteverband Westfalen-Lippe.
Und so ergeben sich große Unterschiede beim Angebot. Der so genannte „Versorgungsgrad“ mit Hausärzten liegt zum Beispiel in der Stadt Ennepetal am äußersten Rand des Ruhrgebietes aktuell bei nur 67,4 Prozent, in Bochum bei 106,5 Prozent.
Ist noch viel „Luft nach oben“?
Durchaus, jedenfalls in einigen Städten. Die Kassenärztlichen Vereinigungen führen Tabellen, aus denen hervorgeht, wie viele Hausarzt-Niederlassungsmöglichkeiten es theoretisch noch in den Städten gibt, bis ein Limit erreicht ist. Demnach bietet zum Beispiel Dortmund noch 30 weitere Zulassungsmöglichkeiten, Bochum 7,5, Gelsenkirchen acht, Hamm 20,5 und Essen 9,5.
Wie ist die Lage bei den Fachärzten?
Auch die fachärztliche Versorgung verbessert sich durch die Rücknahme des Sonderstatus. Im westfälischen Teil des Ruhrgebiete werden aber nur fünf weitere Kinderärzte gezählt, weil dort die Kinderarztdichte schon vor der Reform gut gewesen sein soll. Bei den Nervenärzten beträgt der Zuwachs 34.
Wie hat sich die Versorgung mit Psychotherapeuten entwickelt?
Im Jahr 2018 gab es laut KVNO im Revier (RVR-Gebiet) insgesamt 352 niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Zum 1. Januar 2022 wurden dort 441 Therapeuten gezählt, der Zuwachs ist also deutlich. Die neu entstandenen Sitze konnten schnell vergeben werden, heißt es. Allein in Oberhausen habe es zuletzt noch eine halbe Niederlassungsmöglichkeit gegeben. „Alle weiteren Planungsbereiche des Ruhrgebietes gelten in Bezug auf die Psychotherapeuten entsprechend der bundesweit geltenden Bedarfsplanungs-Richtlinie als überversorgt“, so die KVNO.