Köln. In einem Missbrauchskomplex führen die Spuren zu einem Tatverdächtigen aus Wermelskirchen. Die Ermittler sprechen von einer „neuen Dimension“.

Sie dachten, sie hätten schon alles gesehen, könnten nicht mehr überrascht werden. Aber der jetzt in Köln aufgedeckte Fall von Kindesmissbrauch, macht selbst hartgesottene, erfahrene Ermittler fassungslos. 73 Tatverdächtige, ein mutmaßlicher Haupttäter, der seine Opfer fand, in dem er nebenbei als Babysitter jobbte und Millionen von schrecklichen Fotos und Videos lassen hochrangige Kriminalbeamte von „einer neuen Dimension menschenverachtender Brutalität“ sprechen.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hält Änderungen beim Datenschutz für geboten. Der Staat solle nicht in Bürgerdaten „herumwühlen“, der Datenschutz müsse gewährleistet bleiben, sagte Reul am Dienstag im WDR. Es dürfe aber bei Hinweisen auf Kindesmissbrauch nicht sein, dass Ermittelnde „nur bis zur IP-Adresse kommen“. Die Politik müsse zu einer „intelligenten Lösung“ kommen. Reul fordert einen Kompromiss, um Täterinnen und Täter schneller zu fassen. „Es muss sich im Recht der Datenspeicherung was ändern.“

Das SEK hatte kurz vor Nikolaus 2021 zugegriffen – nach einem Tipp des Landeskriminalamtes Berlin: Am 3. Dezember stürmen sie ein Haus in einer ruhigen Wermelskirchener Wohnstraße. Nicht etwa, weil sie davon ausgehen, dass der Mann den sie suchen, so gewalttätig oder bewaffnet ist. „Wir wollten ihn“, sagt der 1. Kriminalkommissar Jürgen Haese am Montag in Köln, „am offenen Rechner überraschen“ – schon um zu verhindern, dass er Daten löscht oder verschlüsselt.

Missbrauch: SEK erwischt Tatverdächtigen am eingeschalteten Rechner

Das Vorhaben gelingt. Die Männer des SEK platzen mitten in eine Videokonferenz des Verdächtigen mit seinen Arbeitskollegen, die daraufhin zunächst an einen Überfall glauben und ihrerseits die Polizei alarmieren. „Wir konnten das aber schnell aufklären“, sagt Haese.

Was sie gefunden haben im Haus des Beschuldigten, wird die Beamten länger beschäftigen. Sehr viel länger. 18 Tage lang dauert allein die Durchsuchung, bei der 232 Datenträger sichergestellt werden – Festplatten und USB-Sticks. Ein Großteil davon wird noch vor Ort „live“ gesichert, aus Sorge, dass sich einmal abgeschaltete Rechner nicht wieder aktivieren lassen.

Allein auf einer einzigen Festplatte finden die Fahnder 3,5 Millionen Bilder und 1,5 Millionen Videos mit Kinderpornografie. 32 Terrabyte Daten sind mittlerweile zusammengekommen. Zum Vergleich: Beim Missbrauch von Bergisch Gladbach waren es „nur“ drei Terrabyte und davon waren auch noch ein Teil „ganz normale Bilder“.

Oberstaatsanwalt: „Hat mich bis ins Mark erschüttert“

Die gibt es hier offenbar nicht. Es gebe keinen Spielraum für Interpretation, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Ulrich Bremer. Im Gegenteil: Selbst gestandene Ermittler sind nach kurzer Ansicht des Materials geschockt. „Ich habe noch nie eine solche menschenverachtende Brutalität gegen Kinder und eine derartige gefühllose Gleichgültigkeit gesehen“, sagt Kölns Polizeipräsident Falk Schnabel. Und auch Joachim Roth, Leitender Oberstaatsanwalt, bestätigt: „Das, was ich gesehen habe, hat mich bis ins Mark erschüttert.“

Eines aber stellen Polizei und Staatsanwaltschaft klar. Anders als in Münster oder Bergisch-Gladbach, handele es sich im jüngsten Fall nicht um einen Ring von Pädophilen. Im Mittelpunkt steht der 44-Jährige, über den die Ermittler nur sagen, er sei 44 Jahre alt, Angestellter, verheiratet, kinderlos und nicht vorbestraft.

Vorwurf: Zwölf Kinder zwischen 2005 und 2019 missbraucht

Besonders erschreckend: Seine Opfer soll der „im Kern Geständige“ in den meisten Fällen gefunden haben, in dem er sich nichtsahnenden Eltern auf entsprechenden Plattformen als Babysitter anbot. Manche Familien besuchte er nur ein oder zwei Mal, andere über Jahre hinweg immer wieder. Zwölf, teilweise behinderte, Kinder – zehn Jungen und zwei Mädchen – soll er dabei zwischen 2005 und 2019 missbraucht haben. Die Hälfte der Kinder sei nicht älter als drei Jahre gewesen, sagt Haese, das jüngste Opfer gerade einmal einen Monat. Die Taten spielten zwischen 2005 und 2019. Die Eltern der Opfer haben von dem Missbrauch anscheinend nichts bemerkt. Zur Polizei gegangen ist nach bisherigen Ermittlungen jedenfalls niemand.

Inzwischen wird bundesweit gegen 73 weitere Verdächtige in 14 Bundesländern ermittelt. Alle sollen Bilder und Videos getauscht, einige sich aber selber des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben. An den eigenen Kindern oder Enkeln, jüngeren Brüdern oder Jungen und Mädchen von Freunden. 33 ihrer Opfer sind bisher identifiziert.

Untereinander vernetzt war die Gruppe nach Erkenntnissen der Polizei nicht. Der Wermelskirchener habe „bilaterale“ Kontakte zu jedem von ihnen über das Internet gepflegt. Lange Chats und Gespräche, über die er – genau wie von den Fotos und Videos – penibel Listen anlegte. Was den Fahndern nun sehr entgegenkommt und auch erklärt, warum die Besondere Aufbauorganisation (BAO), also die extra eingerichtete Sonderkommission, „BAO Liste“ getauft wurde.

Besonders an dem Komplex ist den Ermittlern zufolge, dass viele Familien erst jetzt von den Taten erfahren hätten. Viele der missbrauchten Kinder seien mittlerweile erwachsen und hätten keine Erinnerung an die Vorfälle. Nun damit konfrontiert zu werden, sei eine besondere Belastung.

Erst zehn Prozent des Materials haben die Beamten gesichtet, heißt es. Gut möglich, dass die Zahl der Opfer aber auch die der Verdächtigen noch steige. „Wir stehen“, sagt Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer, „erst ganz am Anfang.“