Düsseldorf. NRW-Heimat- und Kommunalministerin Ina-Scharrenbach (CDU) über die Chancen des Reviers und die Probleme mit der Armutszuwanderung.
NRW-Kommunalministerin Ina Scharrenbach (45) zählt zu jenen CDU-Politikerinnen und -politikern, die in diesen Tagen mit Grünen und Vertretern anderer Parteien eine mögliche Regierungsbildung ausloten. Im Interview mit Matthias Korfmann spricht die Politikerin aus Kamen über die Perspektiven des Ruhrgebiets und über Probleme mit der Armutszuwanderung aus Südosteuropa.
Frau Ministerin Scharrenbach, in der 76-köpfigen CDU- Landtagsfraktion sitzen nur zwei Vertreter des Ruhrgebietes. Wie konnte das passieren?
Scharrenbach: Unser Landtag ist das Landesparlament mit dem höchsten Anteil direkt gewählter Abgeordneter. Immer dann, wenn das Ergebnis für die CDU gut ist, zieht die Landesliste nicht. Und weil das Ruhrgebiet noch weitgehend in SPD-Hand ist, bleibt die Zahl direkter CDU-Abgeordneten aus dem Revier klein.
Der CDU -Bezirk Ruhr ist aber der größte in NRW. Welche Möglichkeiten bleiben, ihn angemessen in der Landespolitik abzubilden?
Scharrenbach: Wir sprechen jetzt erst einmal mit allen demokratischen Parteien. Man wird bei einer möglichen Regierungsbildung sehen, ob und wie man einen Ausgleich findet. Der größte Ballungsraum in NRW ist mit zwei direkt gewählten CDU-Vertretern unterrepräsentiert. Wir haben eine Menge PS in unserer CDU-Ruhr, die wollen wir auch auf die Straße bringen.
Unter den 76 Abgeordneten sind nur 16 Frauen, in der Grünen-Fraktion ist der Frauenanteil 60 Prozent. Macht Sie das zornig?
Scharrenbach: Die Abgeordneten der CDU kommen über Direktmandate, die der Grünen zum größten Teil über die Landesliste. Die 20 ersten Plätze auf unserer Liste sind paritätisch mit Frauen und Männern besetzt. Aber die Liste zog nicht. Die Aufgabe muss daher nun sein, mehr Frauen die Kandidatur in den Direktwahlkreisen zu ermöglichen. Im September beim CDU-Bundesparteitag muss es auch darum gehen, wie wir Frauen, Zugewanderte und andere Gruppen besser abbilden können. Wir brauchen eine strategische Frauenförderung, um frühzeitig vor Wahlen zu prüfen, in welchen Wahlkreisen Frauen gezielt auf eine Kandidatur vorbereitet werden können.
Sollte das nächste Landeskabinett paritätisch besetzt sein?
Scharrenbach: Eine paritätische Besetzung mit Männern und Frauen sollte der Anspruch sein.
Geht es dem Ruhrgebiet jetzt besser als vor fünf Jahren?
Scharrenbach: Ja. Die Haushaltslage ist insgesamt besser. Viele Kommunen konnten ihre Liquiditätskredite zurückfahren. Die Kommunen haben Finanz-Überschüsse entweder genutzt, um in Schulen, Straßen, Nahverkehr zu investieren oder sie haben Schulden abgebaut. Mit öffentlicher Förderung der CDU-geführten Landesregierung wurden Wohnviertel erneuert und viele Immobilien modernisiert. Zu den Treibern im Ruhrgebiet gehören sicher Essen, Bottrop, Oberhausen, Bochum und Dortmund. Es gibt aber auch Städte, die so viele Probleme auf einmal haben, dass man Prioritäten setzen muss. Dort herrscht Unzufriedenheit, die man auch an der Wahlbeteiligung ablesen kann.
Das Rheinische Revier genießt eine Sonderstellung. Sollte das Ruhrgebiet auch eine Modellregion sein?
Scharrenbach: Das Ruhrgebiet braucht auch einen Sonderstatus, um zum Beispiel Modellregion für Zukunftstechnologie zu werden. Der Chempark Marl könnte um ein Forschungszentrum „Chemie der Zukunft“ ergänzt werden. Bochum hat sich zum Hochschul- und Gesundheitsstandort entwickelt, Dortmund wird zum Top-Digitalstandort. Aber dafür braucht ganz NRW mehr Freiheit in der Landesentwicklungsplanung. Die Planungen dauern zu lange. Es hat Jahrzehnte gedauert und 60 Millionen Euro gekostet, bis das Kraftwerk Klepper in Dortmund weg war. Die Wiedernutzung von Brachen und Flächen muss gerade im Revier besser und schneller funktionieren.
Der Städtetag NRW fordert eine Lösung für die Altschulden. Müssen Land und Bund zügig liefern?
Scharrenbach: Das Thema Altschulden musste in der vergangenen Legislatur leider offenbleiben. NRW hat für die Bewältigung der Pandemiefolgen einen kreditfinanzierten Rettungsschirm über 25 Milliarden Euro aufgespannt. Das war nicht eingeplant, als CDU und FDP 2017 begannen. NRW leistet zusammen mit den anderen Ländern und dem Bund auch einen hohen Beitrag für den Wiederaufbau nach der Flutkatastrophe. Dieses Geld steht für andere Zwecke dann nicht zur Verfügung.
Aber wir haben die Altschulden auf dem Schirm. Dabei muss eins klar sein: Die Begrenzung der Wiederverschuldung ist Teil einer Altschuldenlösung. Man stelle sich vor, es gelingt, den Kommunen die Last der 20 Milliarden Euro Liquiditätskredite zu nehmen, und im nächsten Jahr nimmt eine Stadt den nächsten Liquiditätskredit auf. Die Altschuldenlösung muss nachhaltig sein. Die Rechnung geht nur auf, wenn Kommunen solide haushalten. Sonst stehen sie in 30 Jahren wieder dort, wo sie heute sind.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie im Ruhrgebiet zuerst ändern?
Scharrenbach: Das Thema Sicherheit und Ordnung. Zum Beispiel mehr Sichtbarkeit der kommunalen Ordnungsdienste, das Weiterentwickeln noch sichererer Wohnviertel, Lösung von Problemen bei der Armutszuwanderung aus Südosteuropa.
Warum Südosteuropa?
Scharrenbach: Wir haben in Nordrhein-Westfalen viel erreicht. Zum Beispiel das Projekt fälschungssichere Schulbescheinigungen. Das ist zwar noch in der Auswertung, aber seit dem Start des Projekts sind bei den Familienkassen keine gefälschten Schulbescheinigungen aus den Projektstädten mehr eingereicht worden. Das ist ein Erfolg. Allerdings sind viele Probleme, für die der Bund zuständig ist, noch ungelöst. Denken sie an das Melderecht. Ich verstehe nicht, warum jemand, der aus dem EU-Ausland einreist, drei Monate Zeit hat, um sich bei den Behörden anzumelden und jeder Bundesbürger sich innerhalb von 14 Tagen melden muss.
Die Europäische Union muss zudem nach acht Jahren Arbeitnehmer-Freizügigkeit mit Rumänien und Bulgarien dringend überprüfen, was gut und was schlecht gelaufen ist. Die EU darf nicht die Augen davor verschließen, wenn es in einzelnen Regionen Entwicklungen gibt, die zu Frust und Verdruss führen. Die niedrige Wahlbeteiligung in Gelsenkirchen bei der Landtagswahl dürfte auch etwas damit zu tun haben.
Es stehen weitere EU-Beitritte von Staaten aus dem Westbalkan bevor. Diese Staaten gehören in die Europäische Union. Aber: Fehler dürfen sich nicht wiederholen. Der Auftrag der Politik ist es, die Arbeitnehmer-Freizügigkeit zu schützen. Wenn ich aber merke, dass diese Freizügigkeit zum Teil unterlaufen wird mit anderen Beweggründen, weil das Wirtschaftsgefälle zwischen Deutschland und Rumänien und Bulgarien so groß ist, dann muss man dafür Sorge tragen, dass das korrigiert wird. Weil sonst die Vorbehalte von Bürgern gegen diese Freizügigkeit zunehmen und sie insgesamt in Gefahr gerät.