Essen/Düsseldorf. Kurz vor den Abschlussprüfungen warnen Experten vor Wissens-Lücken bei Schulabgängern. Hochschulen befürchten in der Folge mehr Studienabbrecher.
Vor den anstehenden Abiturprüfungen ab dem 26. April sowie den Zentralen Prüfungen am Ende der Klasse 10 (ZP 10) rund zwei Wochen später fragen sich viele Schulabgänger, ob sie den Herausforderungen von Ausbildung und Studium gewachsen sind. Denn nach zwei Jahren unter Pandemiebedingungen befürchten viele Schülerinnen und Schüler, wichtigen Stoff versäumt zu haben. Hochschulen und Ausbildungsbetriebe rechnen mit einem „Corona-Effekt“ bei Schulabgängern und stocken Beratungen und Hilfsangebote auf.
Bernd Kriegesmann, Präsident der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz der Fachhochschulen, befürchtet dauerhafte inhaltliche Defizite bei vielen jungen Menschen, die sie noch Jahre vor sich herschieben werden. Kriegesmann spricht in diesem Zusammenhang bereits von „Bildungs-Long-Covid“. Wie studierfähig und wie ausbildungsfähig sind die Schulabgänger in NRW nach zwei Jahren Schule mit Wechsel- und Distanzunterricht, Online-Lehre und Coronastress?
Das sagen die Hochschulen:
„Wir haben bereits in den vergangenen Semestern bemerkt, dass wir bei den Studienanfängern noch mehr Stoff nachholen müssen als zuvor“, sagt Bernd Kriegesmann. Zugleich sei der Bedarf an Beratungsangeboten massiv gewachsen. Wie organisiere ich mein Studium? Wie motiviere ich mich? Wie kämpfe ich mich allein durch den Stoff? Wie finanziere ich mein Studium? Das seien zentrale Fragen nach vier Corona-Semestern.
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„Auch wenn das Sommersemester hoffentlich wieder im Normalbetrieb abläuft, werden wir nicht in einem Jahr aufholen können, was in den Schulen an Lücken aufgetreten ist“, so Kriegesmann. Die Hochschulen bemerkten zudem, dass sich viele Studierende vor anstehenden Prüfungen abmelden. „Wir befürchten eine Bugwelle von aufgeschobenen Prüfungen und eine wachsende Zahl von Studienabbrechern in den kommenden Jahren“, sagt Kriegesmann. Irgendwann seien der Rückstand und der Frust so groß, dass Studierende entnervt aufgeben.
Das sagen die Universitäten:
Auch die Landesrektorenkonferenz (LRK) erhält Rückmeldungen der Professoren in NRW über inhaltliche Lücken von Studienanfängern. Sorgen bereitet der Landesrektorenkonferenz NRW die zuletzt deutlich gesunkene Anfängerzahl gerade in den wichtigen MINT-Studiengängen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Dies deute nach Ansicht der LRK darauf hin, „dass möglicherweise auch die Abiturientinnen und Abiturienten selbst ein erhöhtes Defizitempfinden hinsichtlich Mathematik und Naturwissenschaften hegen“. Auch in einigen Lehramtsstudiengängen sei die Nachfrage nicht ausreichend.
Mit Orientierungswochen, einem „Frühstudium“ für interessierte Schülerinnen und Schüler, einer Ausweitung der Online-Beratung, studienbegleitenden Mentoren sowie Mathematik- und Schreibwerkstätten wollen die Unis dem Trend entgegenwirken.
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Zudem sollen „Brückenkollegs“ jungen Menschen den Sprung von der Schule zur Universität erleichtern und fachliche Lücken schließen. Leider habe die LRK zuletzt eine unerwartet geringe Nachfrage nach solchen Aufholprogrammen bemerkt: „Insgesamt zeigt sich, dass möglicherweise die Erschöpfung der jungen Menschen – und bei einigen wohl auch ein gewisser Frust – nach mehr als einem Schuljahr lückenhaften Online-Unterrichts die Bereitschaft reduziert hat, sich freiwillig vor Semesterbeginn mehrere Wochen lang einem solchen Aufholprogramm zu stellen.“
Das sagt das Schulministerium:
Schulministerin Yvonne Gebauer versucht, den Abschlussjahrgängen die Furcht vor den Prüfungen zu nehmen. „Wer am Ende dieses Schuljahrs eine zentrale Abschlussprüfung ablegt, wird einen vollwertigen Abschluss erhalten“, sagte sie. Auch in diesem Jahr würden die Schülerinnen und Schüler wieder „mit einer angemessenen Anpassung der Prüfungsvorgaben“ unterstützt. Dazu zähle insbesondere die Prüfungsvorbereitung: vom 1. bis zum 7. April findet daher Unterricht nur noch zur Vorbereitung auf die Prüfungen in den Abiturfächern statt.
Für die Zentralen Prüfungen 10 gelte wie im Jahr zuvor, dass die fachlichen Vorgaben konkretisiert und bestimmte Inhalte von der Prüfung ausgenommen würden. „Diese werden auf die Unterrichtszeit nach der Prüfung verschoben“, teilt das Ministerium mit.
Das sagt die Studienberatung:
Auch das Team des Akademischen Beratungs-Zentrums (ABZ) der Uni Duisburg-Essen hat deutlich mehr zu tun als zuvor. „Was man bei allen Programmen aber nicht aufholen kann, ist die Unsicherheit der Studierenden nach vier Corona-Semestern“, sagt Studienberaterin Anja Laroche. Es fehlten die Kontakte zu Dozenten und Kommilitonen, ein soziales Umfeld, motivierende Lerngruppen, eben das ganz normale Uni-Leben. Manche verschieben daher ihren Studienwunsch oder gehen in eine Ausbildung, da sie dort nach wie vor Strukturen, Sicherheit und Kontakte finden könnten, so Laroche.
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Trotz aller Probleme habe die Corona-Zeit aber auch einen positiven Nebeneffekt, meint ABZ-Leiter Jörn Sickelmann. „Man darf nicht vergessen, was die Schülerinnen und Schüler in dieser Zeit geleistet haben. Sie haben sich selbst motivieren und organisieren müssen, sie haben den Umgang mit Medien geübt, Flexibilität gezeigt, selbstständig gelernt und recherchiert“, zählt Sickelmann auf. Diese Kompetenzen könne man nicht in Noten ausdrücken, seien aber „wichtige Fähigkeiten, die ihnen später helfen werden.“
Das sagen die Eltern:
Elternvertreter sind besorgt über die anstehenden Zentralen Prüfungen nach der zehnten Klasse und fordern das Schulministerium auf, angesichts der Lernrückstände darauf zu verzichten. „Die Schülerinnen und Schüler der zehnten Klassen sollten „gerade dieses Jahr statt ZP 10 eine durch die Lehrkräfte der Schule erstellte Prüfungsarbeit“ ablegen, schlägt Ralf Radke, Vorsitzender der Landeselternschaft der integrierten Schulen in NRW (Leis), vor. Dadurch könne stärker auf den tatsächlich erteilten Unterricht eingegangen werden als dies bei zentralen Prüfungen möglich sei.
Das sagt das Handwerk:
Aus der Sicht von ausbildenden Betrieben gibt es kaum Besorgnis bezüglich der Ausbildungsfähigkeit von Schulabgängern. „Aus der betrieblichen Praxis hören wir: „Wer sich in den letzten Monaten oder vor ein, zwei Jahren als Schulabgänger vorgestellt hatte und in eine Ausbildung übernommen wurde, der hatte weitestgehend eine normale Schul- und Persönlichkeitsentwicklung und die Corona-Störungen erst gegen ganz am Ende erlebt“, erklärt Andreas Ehlert, Präsident des Dachverbandes Handwerk NRW. Leistungsunterschiede zwischen den Bewerbern von 2019 oder 2021 seien nicht zu erkennen.
Natürlich stellten sich die Ausbilder und Ausbilderinnen darauf ein, „dass da eine Generation an den Berufsstart kommt, die sich die Welt zwei Jahre lang weniger ausgeprägt hat erobern können als frühere, dass vielleicht auch ein paar Fertigkeiten nicht vorausgesetzt werden können.“ Im Handwerk gelte aber: „Fehlendes Können darf und soll in der Ausbildung reifen, und Übung den Meister machen.“
Das „grundsätzliche Hauptproblem“ bleibe der Bewerber-Mangel für eine Ausbildung in gewerblichen und technischen Berufen, so Ehlert. Ohne eine Investitions- und Exzellenz-Offensive ins Duale System, ohne ausreichende Versorgung der Berufsbildungsstätten mit qualifizierten Fachlehrern seien diese Herausforderungen nicht zu schaffen.
>>>> Beratung und Infos:
An den Hochschulen sind die Zentralen Studienberatungen die erste Anlaufstelle für Studieninteressierte und Studierende, Multiplikatoren wie Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern und Erziehungsberechtigte. Sie bieten fachkundige Informationen und Beratung zu allen Fragen rund ums Studium aus erster Hand, wie den Hochschulzugang, Bewerbung, Studieninhalte und -anforderungen.
Eine überregionale Darstellung aller Angebote der Zentralen Studienberatungen in Nordrhein-Westfalen findet sich auf einer zentralen Info-Seite im Netz. Beratungsangebot für alle, die am Studium zweifeln bietet die Seite „Next Career“ . Informationen über alle Studienangebote der Hochschulen in Deutschland zeigt der „Hochschulkompass“ der Hochschulrektorenkonferenz.