Essen/Düsseldorf. „Nicht klagen, sondern anpacken“ ist die Devise der Schulen in NRW. Psychologe: Geflüchtete Kinder sind in einer emotionalen Ausnahmesituation.

Die Schulen in NRW bereiten sich darauf vor, geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine aufzunehmen. Sie sollen zunächst in Vorbereitungs- und Willkommensklassen unterrichtet werden, kündigte Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) an. Sobald die Flüchtlinge einer Kommune zugewiesen wurden, greife die gesetzliche Schulpflicht, betonte die Ministerin. Doch sind die Schulen darauf vorbereitet? Wie schultern sie die zusätzliche Aufgabe – und mit welchen emotionalen und psychologischen Belastungen der traumatisierten Kinder und Jugendlichen werden die Lehrkräfte konfrontiert?

Die Kinder haben jede Gewissheit verloren, in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen. „Viele werden Erfahrungen gemacht haben mit Gewalt, Ängsten und Not und dem Verlust von Vertrauten, Vätern, Freunden“, sagt der Schulpsychologe Uwe Sonneborn, Mitglied im Vorstand des Landesverbands Schulpsychologie NRW. „Einige dürften verstört sein durch die die Flucht, die fremde Umgebung und die andere Sprache.“ Diese emotionale Ausnahmesituation der jungen Menschen stelle Schulen vor enorme Herausforderungen.

Zeit, Zuwendung und Zutrauen

Wichtig seien nun die „drei Z“, raten Schulpsychologen: Zeit, Zuwendung und Zutrauen. Die Kinder und Jugendlichen benötigten Zeit und Gelegenheit, im sicheren Rahmen über ihre Ängste und Sorgen berichten zu können. „Man muss die Kinder und Jugendlichen ankommen lassen, ihnen Routinen und klare Abläufe vermitteln und sie ganz selbstverständlich in den Schulalltag einbeziehen.“ Falsch sei es, sie sofort mit Fragen zu bedrängen. „Das Spiel der Kinder untereinander zu fördern ist ganz besonders wichtig und hilfreich, denn im Spiel verstehen sie sich meist ohne Sprachkenntnisse.“

Auch interessant

Auf Kriegserlebnisse sollten Erwachsene nur eingehen, wenn die betroffenen Kinder dies selbst ansprechen, rät Sonneborn. „Dazu sollte ein geeigneter und geschützter Rahmen gesucht werden. Keinesfalls aber sollten diese Themen selbst angesprochen oder die Kinder danach befragt werden.“ Als Faustregel sollte gelten: „Ehrlich Rede und Antwort stehen, Zurückhaltung bei eigenen Bedürfnissen wie Neugier und Fragen.“

Erste Flüchtlingskinder kommen in die Schule

Sonneborn glaubt, dass die Lehrkräfte auf mögliche Probleme und Konflikte vorbereitet seien. „Die Situation von Flüchtlingen ist für die Schulen ja kein völlig neues Thema. Auch nicht der mögliche Konflikt zwischen Flüchtlingen“, etwa wenn russische und ukrainische Kinder sich begegneten. Dennoch sei der Zuwachs in den Klassen ein Problem, das die durch zwei Jahre Pandemie ohnehin belasteten Schulen nun zusätzlich stemmen müssten. Sonneborn: „Die Aussicht auf eine beginnende Normalität nach der Pandemie ist wieder zerstört. Die Schulen kommen aus einer mindestens zweijährigen Belastungs- und Verunsicherungsphase in die nächste.“

Auch interessant

Der Krieg in der Ukraine bewegt viele Menschen in Deutschland. Die Gelsenkirchener Pfingstgemeinde in Schalke verfolgt die Auseinandersetzung mit besonders bangem Blick, weil dort sowohl ukrainisch- als auch russischstämmige Gläubige ihre Heimat haben.
Von Christiane Rautenberg und Gordon Wüllner-Adomako

Die ersten Flüchtlingskinder haben bereits eine neue Klasse gefunden. „Wir haben gestern einen zehnjährigen Jungen in die dritte Klasse aufgenommen“, sagt Peter Kovac, Leiter der Oberhausener Astrid-Lindgren-Grundschule. „Wir haben in den letzten Jahren eine gewisse Routine darin entwickelt, Flüchtlingskinder aufzunehmen“, erzählt er. „Wir sehen das als unseren Auftrag.“

Klasse begrüßt ukrainischen Jungen

Als die Mutter mit ihrem Sohn vor der Schule stand, habe man den Jungen spontan aufgenommen. „Er hatte schon einen Rucksack dabei und wollte direkt in der Schule bleiben“, erzählt Kovac. Das Kollegium habe die Schulkinder in der letzten Woche bereits darauf vorbereitet, dass Kinder aus den Kriegsgebieten ankommen werden. „Der Junge wurde entsprechend herzlich begrüßt, die Kinder freuen sich über den Neuzugang.“ Aber zunächst müsse der Junge mal ankommen und die Sprache lernen.

An die Belastungen durch die Corona-Krise und an die aus der Sicht von Lehrergewerkschaften unzureichende Personalausstattung der Schulen erinnert auch Stefan Behlau, Landeschef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Dennoch würden Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogisches Personal selbstverständlich „mit großem Engagement und hoher Motivation die Kinder und Jugendlichen, die vor dem schrecklichen Krieg aus der Ukraine geflüchtet sind, unterstützen und ihnen sichere Orte in den Schulen geben.“

Schulleitungen: Nicht klagen, sondern anpacken

Umso selbstverständlicher müsse es aber für Bund, Land und Kommunen sein, den Schulen schnelle und unbürokratische Hilfe zu leisten. „Die Expertise ist da. Nur nicht die Ressourcen“, bestätigte die NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ayla Çelik, gegenüber der „Rheinischen Post“. Das NRW-Schulministerium versichert, das Land prüfe alle Möglichkeiten, um Schulen die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Auch interessant

Nicht klagen, sondern anpacken ist die Devise der Schulleitungsvereinigung NRW (SLV). „Wir müssen in Krisenzeiten systemischer denken, geleitet von dem Wissen, dass wir die Zukunft Europas gestalten und Menschen in Not beistehen“, sagte SLV-Chefin Antonietta Zeoli dieser Redaktion.

Viele wollen rasch wieder in die Heimat

Die Leiterin eines Gymnasiums in Düsseldorf sagte weiter: „Wir sollten jetzt angesichts dieser weiteren Krise nicht darüber lamentieren, dass kein Raum in den Schulen sei. Räume gibt es in jeder Stadt genügend. Unterrichten kann auch außerhalb des Schulgeländes funktionieren.“ Dies sei die Zeit, um Schule anders und flexibel zu denken: „Geld allein reicht nicht. Wir brauchen Menschen, die die Arbeit in den Schulen leisten können. Schlanke Stellen-Besetzungsverfahren sind wichtig“, so Zeoli. Die SLV begrüßt, dass es noch in dieser Woche die ersten Schulleiterdienstbesprechungen der Bezirksregierungen geben soll.

Viele der geflüchteten Familien wollen vermutlich so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren. „Insofern sollte man keine Erwartungen an einen längerfristigen Verbleib oder gar eine Integration haben“, meint Schulpsychologe Sonneborn. Die Menschen planten vermutlich keine dauerhafte Zukunft in Deutschland. „Die Teilfamilien sind hier auf unbestimmte Zeit und vermutlich länger, als sie es selbst wünschen.“