Düsseldorf. Die Zahl der unangemeldeten Coronademos in NRW steigt, 700 waren es in vier Wochen. Innenminister Reul im Interview zum schwierigen Umgang.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hat am Dienstagmorgen in seinem Düsseldorfer Büro die nächste Bilanz der „Montagsspaziergänge“ auf dem Tisch. Im Interview spricht er über  den schwierigen Umgang der Polizei mit Querdenkern, Extremisten und Impfunwilligen.

Herr Minister, haben sich die „Montagsspaziergänge“ der Querdenker und Impfgegner zu einem Massenphänomen ausgewachsen?

Reul: Nein, es bleibt eine kleine Minderheit, die da auf die Straße geht. Bislang blieb es weitgehend friedlich. Aber für die Polizei ist es dennoch eine erhebliche Herausforderung. In den vergangenen vier Wochen hatten wir in Nordrhein-Westfalen rund 700 Corona-Demonstrationen mit insgesamt über 100.000 Teilnehmern. Bis auf 40 Gegendemonstrationen richteten sich die allermeisten Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Immer mehr Versammlungen werden nicht angemeldet.

Sind Demonstrationen ohne vorherige Anmeldung nicht verboten?

Reul: Wer eine Versammlung nicht anmeldet, macht sich strafbar. Wenn es keinen erkennbaren Versammlungsleiter oder Meinungsführer gibt, muss Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet werden. Die bloße Teilnahme an einem solchen Spaziergang ist aber keine strafbare Handlung.

Die Spaziergänger spielen seit Wochen Katz und Maus mit der Polizei, weil sie behaupten, gar nicht zu demonstrieren. Warum lässt sich der Staat auf der Nase herumtanzen?

NRW-Innenminister Herbert Reul sieht die Corona-Spaziergänge mit Sorge.
NRW-Innenminister Herbert Reul sieht die Corona-Spaziergänge mit Sorge. © dpa | dpa

Reul: Die Kategorie Spaziergang gibt es im Versammlungsrecht nicht. Auch ohne Sprechchöre und Transparente kann eine Menschenansammlung eine erkennbare öffentliche Meinungskundgabe sein, die angemeldet werden muss. Es kann sich auch um eine Form eines stillen Protests handeln. Die Spaziergänge, die aktuell immer montags stattfinden, haben ganz klar ein Muster. Außerdem wissen wir, dass zu diesen Versammlungen im Messengerdienst Telegram aufgerufen wird.

Warum schreiten Sie dann nicht ein?

Reul: Artikel 8 unseres Grundgesetzes garantiert jedem Bürger das Recht, sich friedlich in der Öffentlichkeit zu versammeln. Man kann in Deutschland gegen oder für alles auf die Straße gehen, solange keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgt werden. Das ist in der Demokratie zu Recht ein extrem hohes Gut. Die Polizei muss also immer die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Blick haben.

Wann kann eine Versammlung aufgelöst werden?

Reul: Der Verstoß gegen die Anmeldepflicht einer Versammlung ist zwar strafbar, reicht aber allein nicht aus, um die Demonstration aufzulösen. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Kernkraftwerk Brokdorf klargestellt. Der Gesetzgeber hat da keinen Spielraum. Eine Auflösung ist nur zulässig, wenn die die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist, es etwa zu Gewalteskalationen kommt und es kein milderes Mittel gibt.

Muss es also die Polizei vor Ort ausbaden?

Reul: Es ist eine schwierige Abwägung für unsere Einsatzkräfte. Deswegen haben wir allen Polizeidienststellen eine rechtliche Einschätzung an die Hand gegeben, wann ein vermeintlich zufälliger Spaziergang als Versammlung zu werten ist.

Es ist nicht Aufgabe von Demonstranten, der Polizei und dem Innenminister das Leben leichter zu machen…

Reul: Schon klar. Und die Demonstrationsfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht. Doch ich appelliere an alle, die gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen oder was auch immer auf die Straße gehen wollen: Melden Sie Ihre Versammlung an. Das hilft der Polizei bei der Einsatzplanung, dient der Sicherheit der Bevölkerung und übrigens auch der Veranstaltung selbst. Für unkooperatives Verhalten fehlt mir jedes Verständnis. Das gefährdet am Ende das hohe Gut der Versammlungsfreiheit.

Wer geht da montags auf die Straße?

Reul: Unser Verfassungsschutz geht davon aus, dass bei den Montagsspaziergängen teils bis zu zehn Prozent Rechtsextremisten mitlaufen. Beim Rest handelt es sich um Verschwörungsmythiker, aber eben auch um Menschen aus dem Bürgertum mit diffusen Sorgen oder echten Impfängsten. Mir geht es darum, allen noch Ansprechbaren zu sagen: Ihr könnt gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen demonstrieren, aber lasst Euch nicht vor den Karren von Verfassungsfeinden spannen.

Welche Rolle spielt bei den Protesten der Messengerdienst Telegram?

Reul: In Telegram-Kanälen verbreiten sich Verschwörungsmythen und werden Aufrufe zur Gewalt geteilt. Dieser Messengerdienst dient erkennbar nicht nur der individuellen Kommunikation, sondern der massenhaften Verbreitung von Hass und Hetze. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das strafbare Inhalte auf sozialen Plattformen bekämpfen sollte, greift hier erkennbar nicht. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie dringend im Umgang mit Telegram eine Antwort findet.

Bei Corona-Protesten in Münster hat zuletzt ein Polizist Querdenkern die Meinung gegeigt: Sie wollten gar nicht harmlos spazieren gehen, sondern die Ordnungshüter „verarschen“. Das Video wurde hunderttausendfach Mal geklickt. Sprach der Uniformierte da insgeheim dem Dienstherrn Reul aus der Seele?

Reul: Er hat da offenbar einen Nerv getroffen. Allerdings gehört es zur großen Herausforderung von Polizisten, in Grenzsituationen besonnen zu handeln, Recht ohne persönliche Befindlichkeiten durchzusetzen und das Neutralitätsgebot unbedingt zu wahren.