Düsseldorf. Die NRW-Regierung will keinen Distanzunterricht mehr. Für Thomas Kutschaty (SPD) gehören Schulen sogar zur „kritischen Infrastruktur“.
Kurz vor dem Ende der Weihnachtsferien entwickelt sich in NRW ein Streit über die Frage, ob Schul-Schließungen angesichts der Risiken der Omikron-Virusvariante eine Option sein müssen. Die Landesregierung, NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty sowie Schulleiter dringen auf ein Fortführen des Schulbetriebs. Gewerkschafter und Teile der Elternschaft sind skeptisch.
„Landesweite Schulschließungen müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vermieden werden“, hieß es auf Anfrage aus dem NRW-Schulministerium. Die engmaschigen Testungen an den Schulen sicherten den Präsenzunterricht verlässlich ab. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte in seiner Neujahrsansprache: „Wir wollen, dass Schulen und Kitas möglichst offen bleiben.“
"Schließungen sollten keine Option sein"
Oppositionsführer Thomas Kutschaty (SPD) forderte im Gespräch mit dieser Redaktion, Schulen sollten grundsätzlich als „systemrelevante, kritische Infrastruktur“ betrachtet werden. Ein Umstieg auf ausschließlichen Distanzunterricht komme nur dann in Betracht, „wenn sich das Infektionsgeschehen an den Schulen nicht mehr kontrollieren ließe“. Solange sich die Zahlen an den Schulen nicht mit einem exponentiellen Wachstum entwickelten, sollten Schließungen keine Option sein.
"Katastrophale Folgen" für Kinder befürchtet
Ähnlich äußerten sich Schulleiter und einige Elternvertreter. „Erneute Schulschließungen hätten für viele Schülerinnen und Schüler katastrophale Folgen“, sagte die neue Vorsitzende der Schulleitungsvereinigung NRW (SLV), Antonietta Zeoli, dieser Zeitung. Oliver Ziehm, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien, meint: „Ein erneuter Rückzug ins Homeschooling kann nur das allerletzte Mittel sein, erst müssen alle Register durch die Erwachsenen gezogen werden. Frühestens wenn die letzte Fabrik geschlossen ist, ist Unterricht auf Distanz denkbar.“
Andere warnen vor einer Festlegung auf die Fortsetzung des Schulbetriebs. Es sei zu befürchten, dass das Infektionsgeschehen im neuen Jahr rasant zulegen werde. Distanz- und Wechselunterricht könnten somit nicht ausgeschlossen werden, sagte die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Ayla Celik. „Daher blicken wir mit Sorge auf den Schulbeginn nach den Ferien, weil nicht alles Mögliche unternommen wurde, um den sicheren Präsenzunterricht, den wir stets fordern, zu gewährleisten.“
Ralf Radke von der Landeselternschaft der integrierten Schulen (Leis NRW) findet, der Ausschluss von Schulschließungen erscheine „nicht faktenbasiert“.
Die Kultusminister der Länder wollen bei einem Sondergipfel am Mittwoch über die Lage beraten.
Welche Corona-Regeln in den NRW-Schulen gelten, lesen Sie hier.
Ist es wirklich angemessen, Distanzunterricht praktisch auszuschließen, obwohl niemand weiß, wie hart die Omikron-Virusvariante in den kommenden Wochen zuschlägt? Die Landesregierung, aber auch Oppositionsführer Thomas Kutschaty betonen, Schulschließungen könnten nur das allerletzte Mittel sein. Ein Überblick über die Argumente.
Was sagt die Landesregierung?
„Oberstes Ziel der Landesregierung und des Ministeriums für Schule und Bildung ist, die Schulen offenzuhalten und den Präsenzunterricht weiterhin zu sichern. Dies ist auch eine wesentliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss des Schuljahres durch möglichst reibungslose Prüfungen und erfolgreiche Abschlüsse“, hießt es aus dem NRW-Schulministerium.
Insbesondere die engmaschigen Testungen leisteten einen entscheidenden Beitrag dazu, den Präsenzunterricht abzusichern. Ein Aussetzen des Schulbetriebes hätte zwangsläufig auch ein Aussetzen aller Schultestungen zur Folge und würde das Infektionsgeschehen insgesamt weniger kontrollier- und einschätzbar machen. Die Regierung hofft auf den zunehmenden Schutz durch Kinder-Impfungen und sieht die Schulen selbst dann wegen der verbesserten digitalen Ausstattung gut vorbereitet, wenn – ausschließlich regional und nicht flächendeckend -- Schulschließungen wider Erwarten doch unvermeidlich sein sollten.
Wie beurteilt Oppositionsführer Thomas Kutschaty (SPD) die Lage?
NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty wirbt dafür, die Schulen auf komplexe Krisenlagen wie Pandemien besser vorzubereiten und sie grundsätzlich als „systemrelevante, kritische Infrastruktur“ zu betrachten. „Wir brauchen eine gesamtstaatliche Notfallvorsorge für das Bildungswesen“, sagte der Politiker dieser Redaktion. Die Krisenkompetenz der Lehrkräfte müsse gestärkt, die Voraussetzungen für das Lernen in kleineren Gruppen geschaffen und Lehrpläne so angepasst werden, „dass nicht mehr nur das Matheheft abgearbeitet wird, sondern pädagogische Konzepte zur Bewältigung der Ausnahmesituation im Vordergrund stehen“.
Zur aktuellen Lage und den Risiken, die womöglich von der Omikron-Virusvariante ausgehen, sagte der Spitzenkandidat der NRW-SPD für die Landtagswahl, die Schülerinnen und Schüler seien durch die vielen regelmäßigen Testungen „eine der bestüberwachten Bevölkerungsgruppen“. Ein Umstieg auf ausschließlichen Distanzunterricht komme daher „nur dann in Betracht, wenn sich das Infektionsgeschehen an den Schulen nicht mehr kontrollieren ließe.“ Ein symptomatischer Anstieg der Infektionszahlen nach den Ferien sei dafür aber nicht unmittelbar ein Indiz. „Wer viel testet, wird schließlich auch mehr finden“, sagte Kutschaty.
Solange sich die Zahlen an den Schulen also nicht mit einem exponentiellen Wachstum entwickeln, sollten Schul-Schließungen keine Option sein. Und selbst dann müsse die Landesregierung zuvor alle anderen möglichen Alternativen geprüft und umgesetzt haben, zum Beispiel die Verkleinerung von Lerngruppen durch Wechselunterricht, der Umstieg auf außerschulische Lernorte, den Einsatz weiterer Luftfilter oder die Anpassung von Lerninhalten.
Was sagen die Schulleitungen über den Distanzunterricht?
Distanz- oder Wechselunterricht könnten im Falle erneut stark steigender Infektionszahlen nicht ausgeschlossen werden, allerdings wäre das die „schlimmste Variante von allen“, sagte die Vorsitzende der Schulleitungsvereinigung NRW (SLV), Antonietta Zeoli. Die Fortsetzung und Sicherung des Präsenzunterrichts habe oberste Priorität. „Erneute Schulschließungen hätte für viele Schülerinnen und Schüler katastrophale Folgen“, so Zeoli. Schon den bisher ausgefallenen Stoff hätten viele Kinder und Jugendliche noch nicht aufholen können. Erneute Schließungen würden diese Lücken weiter vergrößern. Zeoli wies zudem darauf hin, dass Grundschüler am Ende ihrer Grundschulzeit nur zwei reguläre Schuljahre erlebt hätten.
Dass Land und Bund während der Pandemie viel Geld in das Schulsystem gepumpt haben, sei notwendig gewesen. „Aber Geld macht noch keine Bildung. Es fehlt den Schulen auch an Lehrkräften und Personal,“ sagte Zeoli. Corona-Tests, Dokumentation, Nachverfolgung von Infektionsketen, Quarantäne-Maßnahmen, Hybridunterricht – das alles müssten die Pädagogen zusätzlich leisten, da sich Gesundheitsämter bei steigenden Inzidenzen vielerorts überfordert gezeigt hätten.
Sehen die Lehrer-Gewerkschaften dies ähnlich?
Die Bildungsgewerkschaft GEW fordert von der Landesregierung einen verbindlichen Stufenplan, der festlegt, ab welchen Infektionswerten und Eckdaten Kitas und Schulen bestimmte Corona-Maßnahmen ergreifen müssen. „So würde Chaos und ungesteuerter Distanzunterricht durch um sich greifende Quarantänen vermieden“, erklärte GEW-Landesvorsitzende Ayla Celik.
Sie wirft dem Schulministerium vor, aus den Fehlern der vergangenen zwei Pandemiejahre nichts gelernt zu haben. Zentrale Schutzmaßnahmen wie die flächendeckende Anschaffung von Luftfiltern sowie ein Stufenplan für alle Bildungseinrichtungen fehlten noch immer. „Erneut sind unsere Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern, unsere Erzieherinnen und Lehrkräfte ohne eine Perspektive, wie es nach den Ferien weitergehen könnte in die Weihnachtsferien geschickt worden“, so Celik.
Es sei zu befürchten, dass das Infektionsgeschehen im neuen Jahr rasant zulegen werde. Distanz- und Wechselunterricht könnten somit nicht ausgeschlossen werden. „Daher blicken wir mit Sorge auf den Schulbeginn nach den Ferien, weil nicht alles Mögliche unternommen wurde, um den sicheren Präsenzunterricht, den wir stets fordern, zu gewährleisten.“
Die GEW fordert die Landesregierung auf, jetzt dafür die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. In jedem Klassenraum sollten Luftfilter installiert werden. Zudem müsse das Land die Kommunen dabei unterstützen, „niedrigschwellige Impfangebote“ sowie Booster-Impfungen an Schulen anzubieten. „Hier muss mehr Tempo rein“, so Celik.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in NRW schlägt vor, die regelmäßigen Coronatests an Schulen auf immunisierte Personen auszuweiten. Hintergrund ist die hohe Ansteckungsrate durch die Omikron-Variante und die Gefahr, dass auch Geimpfte und Genesene das Virus weitergeben. „Bund, Land und Kommunen sollten sich fragen, ob sie wirklich alles für die Sicherheit der Bildungsreinrichtungen getan haben“, merkte VBE-Landesvorsitzender Stefan Behlau mit Blick auf die Luftfilterdebatte an. „An vielen Stellen beschlich einen das Gefühl, dass es vor allem um finanzielle Aspekte ging und weniger um Fragen der Sicherheit oder Machbarkeit.“
Mit Blick auf das kommende Jahr wünscht sich der Verband von der Politik mehr Klarheit. Schulen müssten so früh wie möglich über politische Entscheidungen informiert werden. Mit kurzfristigen Erlassen und Anweisungen hatte das Schulministerium in der Vergangenheit vielfach für Hektik, Chaos und Kritik gesorgt.
Welche Signale kommen von Elternverbänden?
„Mal wieder befinden wir uns in einem Blindflug, in dem wir nicht abschätzen können, welchem Risiko unsere Kinder beim Schulbesuch ab dem 10. Januar ausgesetzt sind“, sagte Ralf Radke, Vorsitzender der Landeselternschaft der integrierten Schulen (Leis NRW). Nach zwei Jahren Pandemie seien Schulen immer noch keine sicheren Orte. Dass Politiker Schulschließungen ausschließen, erscheint dem Verband „nicht faktenbasiert“.
Das Ausschließen von Schulschließungen ersetze nicht die Notwendigkeit von Infektionsschutz und alternative Unterrichtskonzepten. Die Weihnachtsferien sollten verlängert, Lolli-Tests dreimal in der Woche auch an weiterführenden Schulen eingeführt und eine Impfkampagne in den Schulen angeboten werden.
„Ein erneuter Rückzug ins Homeschooling kann nur das allerletzte Mittel sein.Frühestens wenn die letzte Fabrik geschlossen ist, ist Unterricht auf Distanz denkbar“, erklärt Oliver Ziehm, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien. Die Spuren, die zwei Jahre Corona-Ausnahmezustand bei den Kindern hinterlassen hätten, seien unübersehbar. Daher solle Distanzunterricht erst in Betracht gezogen werden, „wenn zuvor alle anderen Schutzmöglichkeiten ausgeschöpft wurden“.