Düsseldorf. Maskenpflicht, Impfpflicht, 2G: Wo NRW in der Pandemie-Bekämpfung überall falsch abgebogen ist. Eine Chronologie der Krise seit Juni.
Wie konnte NRW nach einem sorglosen Sommer in einen derart düsteren Corona-Winter schlittern? Die Chronologie politischer Aussagen und Entscheidungen der vergangenen Monate zeigt, wo das Land in der Pandemiebekämpfung falsch angeboten ist.
Juni
NRW verzeichnet eine Inzidenz von 7,4. Auf allen Intensivstationen in NRW liegen nur noch 169 Corona-Patienten. Von 18 Millionen NRW-Bürgern sind fast zehn Millionen mindestens einmal geimpft. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), als Unions-Kanzlerkandidat mitten im Bundestagswahlkampf, verströmt Zuversicht. Man gehe davon aus, dass Anfang September 80 Prozent aller NRW-Bürger den vollen Impfschutz hätten: „Unsere Brücke in ein normales Leben steht auf einem festen Fundament.“
Laschet wehrt sich gegen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die bei niedrigen Inzidenzen nicht verhältnismäßig seien: „Irgendwann liegen wir bei Null, und dann kann man nicht sagen, wir liegen jetzt bei Null, es gibt zwar keine Inzidenzen mehr, es gibt zwar auch keine Verbreitung mehr, aber wir halten alle Grundrechtsbeschränkungen mal aufrecht, weil möglicherweise irgendwann doch etwas kommen könnte.“ Die Warnungen vor der hochansteckende Delta-Variante relativiert er: „Wenn trotz der Verbreitung der Delta-Variante die Inzidenz nicht steigt, sondern jede Woche immer weiter sinkt, scheint ja die Auswirkung nicht so groß zu sein.“
Der Expertenrat der Landesregierung, der seit Pandemiebeginn aus vielen Fachrichtungen Empfehlungen zur Corona-Lage gegeben hat, wird aufgelöst. Laschet findet, dass wir alles wissen, „was wir wissen müssen“. Das Wissenschaftler-Gremium warnt hingegen in seiner letzten Stellungnahme vor zu großer Impf-Euphorie: „Diese Sorge um einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen ist begründet: Selbst bei großem Erfolg der Impfkampagne ist nicht sichergestellt, dass in Deutschland zum Herbst die sogenannte Herdenimmunität erreicht wird.“ Der Impfstoff schütze zwar vor einem schweren Verlauf, „aber auch bei geimpften Personen kann das Virus gelegentlich im Rachen nachgewiesen werden“.
Juli
Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) fordert das Ende aller Corona-Maßnahmen. Im Herbst soll es eine Art Freedom Day wie in Großbritannien oder Dänemark geben: „Daher könnte der Tag der Deutschen Einheit, der 3. Oktober, dieses Jahr auch ‚Tag der Freiheit und Eigenverantwortung' werden: Alle Beschränkungen werden aufgehoben, alle sind für sich selbst verantwortlich", so Stamp.
Der Virologe Christian Drosten warnt derweil vor einer Winter-Infektionswelle: „Viele Menschen wähnen sich angesichts einer niedrigen Inzidenz in Deutschland in einem falschen Sicherheitsgefühl.“
August
Die Ministerpräsidenten-Konferenz (MPK) beschließt, dass ab 11. Oktober Corona-Tests nicht mehr kostenfrei angeboten werden. Das soll Ungeimpfte zum Umdenken motivieren. Gleichzeitig gilt ab Ende August die 3G-Regel in weiten Teilen des Freizeitbereichs. „Wir werden mehr testen, statt zu schließen“, sagt Laschet und fügt hinzu: „Es wird keinen weiteren Lockdown geben, sondern mehr Testpflichten für Ungeimpfte.“ Die Test-Zahlen brechen ein, die Impfquoten steigen nicht so deutlich wie erhofft. Auf eine 2G-Regel und 3G-Verpflichtungen am Arbeitsplatz kann sich die MPK nicht einigen.
Die Impfzentren sollen Ende September schließen. Der NRW-Städtetag warnt das Land: Bislang sei unklar, wie die Kommunen reagieren sollen, wenn die Ärzteschaft mit den Impfungen in der Hochphase der Grippe- und Erkältungszeit nicht mehr hinterherkommt oder Auffrischungsimpfungen eine neue Massenimmunisierung notwendig machten.
September
Vize-Ministerpräsident Stamp bekräftigt sein Nein zu einer direkten oder indirekten Impfpflicht: „Als Privatperson sage ich: Ich habe kein Verständnis für Menschen, die sich nicht impfen lassen”, sagt er. Trotzdem sei er gegen eine Impfpflicht durch die Hintertür. „Es geht immer um die Glaubwürdigkeit der Politik.”
Laschet lehnt die Einführung der 2G-Regel für Restaurants, Theater oder Museen wie in Hamburg ab: „Wenn ein Restaurant oder eine Diskothek für sich die 2G-Regel aufstellt, ist das in Ordnung - und bei uns auch möglich. Als staatliche Vorgabe finde ich es falsch.“
Der Virologe Drosten rät zu Kontaktreduzierungen und warnt: „Mit dieser Impfquote können wir nicht in den Herbst gehen. Das reicht absolut nicht aus.“
Oktober
Die Landesregierung beschließt, die Maskenpflicht im Unterricht an allen Schulen trotz steigender Infektionszahlen ab 2. November aufzuheben. Es hagelt Kritik von Eltern und Lehrern. Die meisten Schüler tragen die Masken freiwillig weiter, sogar die Kinder von FDP-Chef Stamp. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt: „NRW sollte die Maskenpflicht an Schulen angesichts der steigenden Inzidenzen beibehalten. Masken sind für die vierte Welle von großer Bedeutung, auch in den Schulen.“ Das Geld für Luftfilter in Schulen und Kitas bleibt weiter liegen: Von insgesamt 90 Millionen Euro an Fördermitteln aus dem „Lüftungsprogramm II“ von Bund und Ländern sind bis Mitte Oktober gerade einmal 5,9 Millionen Euro beantragt.
November
Neu-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) fordert am 2. November eine Ministerpräsidenten-Konferenz und macht davon neue Corona-Beschränkungen in NRW abhängig. Auch am 9. November wähnt er - bei einer im Bundesvergleich moderaten 7-Tage-Inzidenz von 130 – NRW „noch vor der Lage“. Es sei „konzentrierte Wachsamkeit“ angesagt. Der Karnevalsauftakt am 11.11. und das rheinische Derby zwischen Köln und Mönchengladbach am 27.11. dürfen mit Zehntausenden alkoholisierten Jecken und Zuschauern unter 2G-Bedingungen stattfinden. Eine Stunde vor dem Anpfiff des Fußballspiels wird eilig eine Maskenpflicht verhängt, an die sich kaum ein Fan hält. Wüst verteidigt das volle Stadion, CDU-Gesundheitspolitiker Peter Preuß geht erstmals auf Distanz: Kontakte seien dabei unvermeidlich. Zudem gebe es eine An- und Abreise, die quasi nicht zu kontrollieren sei. Es sei bekannt, dass auch geimpfte Personen das Virus weitergeben können.
Vize-Ministerpräsident Stamp ist jetzt doch für eine allgemeine Impfpflicht, weil er mit dem Münchner Staatsrechtler Hinnerk Wißmann gesprochen hat und dessen Argumentation „bestechend“ fand. Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kündigt die Wiedereinführung der Maskenpflicht im Unterricht wieder an, weil der „Infektionsschutz wieder verstärkt in den Vordergrund“ trete.