Essen. Die Tötung des Tankstellen-Mitarbeiters gibt den Ermittlern Rätsel auf. Experte: Von der Tat eines „einsamen Wolfs“ könne man aber nicht reden.

Nach der tödlichen Attacke in Idar-Oberstein wegen eines Streits um die Maskenpflicht rücken Gegner der Corona-Regeln wieder ins Blickfeld. Über die Hintergründe der Tat und des 49-jährigen Verdächtigen wird derzeit noch gerätselt. Bisher ist unklar, ob der Mann der Querdenker-Bewegung zuzurechnen ist. Zwar habe sich die Szene der Corona-Leugner zuletzt zersplittert, dennoch sei die Tat nur vor dem Hintergrund einer Gruppe denkbar, die eine gemeinsame Ideologie vertrete und sich immer stärker radikalisiert habe, sagt der Bielefelder Konflikt und Gewaltforscher Andreas Zick dieser Redaktion. Die These vom „einsamen Wolf“ sei nicht zutreffend.

Gibt es einen Trend, wonach Impfgegner und Coronaleugner zunehmend gewaltorientiert sind und sich radikalisieren?

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Andreas Zick: Dieser Trend läuft seit dem letzten Jahr, weshalb wir auch schon früh eine Radikalisierung festgestellt haben. Dafür gab es Hinweise: Die Feindbilder der Coronaproteste wurden immer stärker aggressiv aufgeladen, bei den Protesten wurde immer mehr Gewalt, zunehmend auch gegen Polizei und Journalisten ausgeübt. Die Ideologie, dass sich die Bewegung im Widerstand gegen ein System befindet, wurde immer stärker. Die Gruppen in den sozialen Medien haben sich immer stärker abgeschottet und zusammengeschlossen. All das spricht für eine Radikalisierung, die jetzt schon über ein Jahr abläuft.

Sind das Einzelne oder kann man von einer Gruppe oder Szene sprechen?

Professor Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.
Professor Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. © dpa | Uni Bielefeld

Es sind vielleicht Einzelne, die die Tat ausüben, aber auch sie haben in der Regel eine Szene, der sie sich zuordnen. Die meisten Hasstaten sind Gruppentaten, daher vertritt die Forschung auch nicht mehr die These vom einsamen Wolf. Zurzeit wissen wir, der Täter hatte eine Waffe und er gab zu Protokoll, dass er wegen der Gesamtsituation gemordet hat. Das allein drückt schon aus, dass er sich als Vertreter von Gruppen versteht und für andere handelt, mit denen er die Ideologie teilt. Es ist immer geraten zu ermitteln, in welchen Milieus sich die Person zur Tat radikalisiert hat. Und zentral wird dabei die Frage, wo der Täter die Rechtfertigung für die Tat her hat.

Was sind die Motive?

Die Motive bei dieser Tat werden nun mühselig von den Behörden zu ermitteln sein. Von vergleichbaren Taten wissen wir, dass sie mit der Tat ein Zeichen für die Bezugsgruppe setzen wollen. Andere handeln, weil sie sich so in die Ideologie des Widerstandes hineinsteigern, dass sie gar nicht mehr darüber nachdenken, wozu die Tat wichtig ist, sondern am Ende denken, die Tat sei notwendig. Größenfantasien spielen eine Rolle. Wieder andere beenden mit der Tat ihre ständigen Gefühle von Ungerechtigkeit. Motive stehen in Wechselwirkung zu den Gruppen und den Umständen, in denen die Täter leben.

Gibt es Schnittmengen zu Verschwörungstheoretikern und Querdenkern?

Ich nehme an, dass Querdenken ohne Verschwörungserzählungen nicht möglich wäre. Querdenken hat von Beginn an propagiert, dass die Grundrechte nicht gewahrt werden und den Mythos beflügelt, dass „die da oben“, „das System“ sie aushebeln. Das heißt nicht, dass sie auch kritisch gegen die Coronaregeln sind, wie übrigens viele andere in der Bevölkerung. Es gibt ja mehr Kritik an den Coronaregeln als überzeugte Vertreter, wenn wir den politischen Streit und die Auseinandersetzungen in der Forschung betrachten. Querdenken setzt hier aber die Delegitimierung von demokratischen Regeln dazu.

Oft fällt im Zusammenhang mit Coronaprotesten der Begriff von der „Notwehr gegen den Staat“. Das hörte man bereits während der Flüchtlingskrise – ist das Zufall?

Nein, das ist überhaupt kein Zufall. Solche Protestbewegungen lehnen sich an andere an und sie werden auch aufgesucht von Protestbewegungen, die vor ihnen da war. Die Coronaproteste sind ein Sammelbecken für rechtspopulistische, rechtsextreme, verschwörungsorientierte, fundamentalistische und sektiererische Gruppen gewesen, neben anderen, die am Rande dort aus Kritik an den Regeln mitlaufen. Die Gruppen waren vorher da. Die Ressentiments gegen Eliten waren vorher da. Sie stehen in einer Traditionslinie und sie übernehmen Ideologien und Rituale anderer radikaler Bewegungen.

Wie kann man solchen Entwicklungen besser vorbeugen oder Extremisten erkennen?

Zentral ist ein umfassender Ansatz der Gewaltprävention, der eingebettet ist in die Radikalisierungsprävention. Als die islamistischen Terroranschläge passierten, ist anschließend enorm viel und schnell passiert. Die Risikobewertung von Gruppen und Personen in sozialen Medien, in radikalen Gruppen hatte sich verbessert. Die Möglichkeiten, früh auf Menschen zuzugehen, die sich radikalisieren, hat sich verbessert. Die Bildungsformate zu Radikalisierung und Extremismus haben zugenommen. Diese Pakete brauchen wir jetzt für neue extremistische Gruppen, die sich in einer neuen Zeit, in der sich so viel in der Gesellschaft verändert hat - ich rede von der Coronapandemie mit all ihren Regeln und Eingriffen - gebildet haben.

Werden Hinweise auf eine Radikalisierung zu leicht übersehen oder nicht ernst genug genommen?

Wir müssen die Hinweise und Anzeichen von Gewalt sehr ernst nehmen. Vor Ort brauchen Kommunen und jene, die sich mit den Protesten auseinandersetzen, eine gute Konfliktschulung. Und nicht zuletzt müssen wir uns auch damit beschäftigen, dass viele Menschen manche der Protestideen teilen. Unsere demokratischen Grundorientierungen sind vielleicht nicht so sicher und fest, wie wir denken. Sicherlich gehen viele Menschen nächsten Sonntag wählen und finden, die Demokratie sei das beste aller Systeme. Das behaupten auch Querdenker. Nur sie stellen zunehmend die Rechtmäßigkeit infrage, wenn ihnen Politik nicht passt. In unserer repräsentativen Umfrage „ZuGleich“ zum Jahresanfang 2021 stimmten 35 Prozent der Befragten der Meinung zu: Wenn die derzeitige Politik uns als deutsche Mehrheit nicht mehr beachtet, müssen wir uns dagegen auflehnen. Insofern hilft auch noch einmal eine Stärkung der Demokratie, und die Mitte der Gesellschaft ist gefordert.