Düsseldorf. Trotz rasant steigender Inzidenzwerte will die Landesregierung in Kita und Schule nicht gegensteuern. Warum, erklärte der FDP-Mann.

Trotz rasant steigender Corona-Infektionszahlen in Nordrhein-Westfalen lehnt Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) neue Schutzmaßnahmen für ungeimpfte Kinder und Jugendliche ab. „Wir haben bei den Unter-Zwölfjährigen de facto keine schweren Verläufe“, sagte Stamp am Donnerstag im Deutschlandfunk.

Es gebe vielmehr „massive Risiken“ durch Lockdown-Folgen wie Übergewicht, Angstpsychosen oder Entwicklungsstörungen. „Wenn mir die Ärztinnen und Ärzte, die nun wirklich fachlich für die Kinder da sind, ausdrücklich empfehlen, nicht mehr zu beschränken, dann ist das für mich maßgebend“, so Stamp.

"Das ist wissenschaftlicher Nonsens"

Zugleich trat der FDP-Politiker Vorwürfen entgegen, er nehme eine Durchseuchung in Kitas und Schulen billigend in Kauf. Dies sei ein „propagandistischer Begriff“, weil er nahelege, alle Kinder würden erkranken: „Das ist aber wissenschaftlicher Nonsens“, sagte Stamp.

Die Corona-Inzidenz lag in NRW am Donnerstag bereits bei 122,4 Neuinfektionen (pro 100.000 Einwohner/Woche) und damit fast doppelt so hoch wie der bundesweite Wert (66,0). Vor allem bei Kindern und Jugendlichen schnellen die Inzidenzwerte aktuell in die Höhe.

Kinderärzte unterstützen den Minister-Kurs

Axel Gerschlauer, Sprecher für den Bezirk Nordrhein im Berufsverband der Kinder- und Jugendmediziner (BVKJ), stützte die Position: „Kinder und Jugendliche sind die großen Verlierer der Pandemie, haben am meisten zurückgesteckt. Und das, obwohl sie durch die Infektion deutlich weniger gefährdet sind als Ältere - hier hat Herr Stamp vollkommen Recht.“ Sein Kollege Michael Achenbach aus dem Bezirk Westfalen-Lippe pflichtete ebenfalls bei und forderte Lösungen „im Einzelfall“, sofern ein infiziertes Kind einen besonders gefährdeten Erwachsenen anzustecken drohe.

Stamp nimmt den liberalen Kurs in Dänemark und den Niederlanden zum Vorbild, wo es auch nicht „zu erheblichen schweren Verläufen bei Kindern“ gekommen sei. Erwachsene Impfmuffel wiederum hätten ihr „privates Risiko“, schwer zu erkranken, selbst zu verantworten. Der Staat könne „nicht dauerhaft die Gouvernante“ sein, wenn sich einige nicht impfen lassen wollten.

Krankenhaus-Belegung entwickelt sich wieder dynamisch

Jochen Brink, Präsident der Krankenhausgesellschaft NRW, warnte dagegen vor einem zu forschen Lockerungskurs: „Natürlich erlaubt die wachsende Zahl von Geimpften einen entspannteren Alltag trotz der Corona-Pandemie. Dennoch ist es aus Sicht der Krankenhäuser viel zu früh, jetzt schon das Ende aller verbindlichen Schutzmaßnahmen oder gar der Hygieneregeln in den Blick zu nehmen. Dafür ist die Lage zu ungewiss.“ Brink sprach von einem „allerletzten Schutzwall gegen einen noch stärkeren Anstieg der Infektionszahlen“.

Die Zahl der stationären Corona-Fälle entwickelt sich in NRW aktuell zwar noch nicht dramatisch, aber sehr dynamisch: Sie hat sich seit Ende Juli auf 1057 Patienten fast verfünffacht. Auf den Intensivstationen liegen mit 265 Infizierten fast vier Mal so viele wie vor vier Wochen. Unklar ist, ab welchem Inzidenz-Niveau die Wahrscheinlichkeit sogenannter Impfdurchbrüche deutlich steigt. Zur Häufigkeit von Langzeitfolgen („Long Covid“) bei Patienten, die nur eine mittelschwere Infektion hatten, fehlen ebenfalls gesicherte Erkenntnisse.