Essen. Die Sorgen des Ruhrgebiets liegen für Berlin oft weit entfernt. Doch es gibt auch Entscheidungen, von denen das Revier profitiert hat.

Arbeit, Umwelt, Mobilität, Lebensqualität: Vor der Bundestagswahl wachsen im Ruhrgebiet die Erwartungen an eine neue Regierung. Die Hoffnung: Berlin möge die besonderen Probleme und Herausforderungen im größten Ballungsraum des Landes künftig stärker in den Blick nehmen als bisher. Politisch gesehen ist das Kommunale allerdings Ländersache. Wie weit also reicht der Arm des Bundes, wenn es um die gezielte Förderung eines lockeren Städteverbandes geht. Und was hat die scheidende schwarz-rote Koalition fürs Revier tatsächlich getan? Eine Bilanz.

Kommunalfinanzen

Die Städte und ihr Geld - das ist im Ruhrgebiet ein wunder Punkt. Wer mit den Folgen des Strukturwandels und einer teils schwierigen Sozialstruktur gleichzeitig zu kämpfen hat, ist finanziell nicht auf Rosen gebettet. Seit vielen Jahren stöhnen die Revierstädte zudem über immer neue, durch Bundespolitik verursachte Aufgaben, deren Finanzierung - wie etwa bei der Flüchtlingsunterbringung - am Ende bei den Kommunen hängen bleibt.

Doch bei der Entlastung von Sozialkosten gab es diesmal einen Durchbruch. Das Corona-Konjunkturpaket, das die Groko in Berlin Anfang Juni 2020 auf den Weg brachte, sicherte allen Kommunen in Deutschland neben dem einmaligen Ausgleich für wegbrechende Gewerbesteuer-Einnahmen eine dauerhaft höhere Beteiligung des Bundes an den Wohnkosten für Arbeitslose zu. Von der Aufstockung des Bundesanteils an den so genannten Kosten der Unterkunft (KDU) um 25 Prozent profitiert das von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Ruhrgebiet überproportional. Die Städte sparen hohe Millionenbeträge. Allein in Essen sind es jährlich über 60 Millionen Euro.

Altschulden

Keine Lösung gab es bei der Altschuldenproblematik. Dabei waren bei diesem Thema die Erwartungen der Region besonders hoch. Denn ob Dortmund, Essen oder Duisburg - nirgendwo in Deutschland türmen derart viele Kommunen derart hohe Kreditberge auf wie im Revier. Das „Arme-Schlucker“-Image des Ruhrgebiets, es hat hier seine Ursprünge. Seit Jahren bauen Revierverantwortliche Druck auf, mit Hilfe des Bundes einen Schuldenschnitt zu erreichen. Nie war die Chance dazu größer als in der letzten Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Denn Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) machte die Lösung der Altschuldenfrage 2020 zur Chefsache.

Doch Scholz scheiterte. An der Union. An Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern, in denen die kommunale Schuldenproblematik nahezu unbekannt ist. „Es schmerzt, dass es noch keinen Schuldenschnitt für die Kommunen gibt. Der aber ist überlebenswichtig für die Städte im Ruhrgebiet“, sagt der Marler SPD-Bundestagabgeordnete Michael Groß, der seit Jahren für den Schuldenschnitt trommelt.

Ungleiche Lebensverhältnisse

Die ungelöste Altschuldenfrage wirft die Frage auf, wie es um das im Grundgesetz verankerte Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland bestellt ist. Auch hier sieht sich das Ruhrgebiet auf der Verliererseite. Immerhin: Die aktuelle Bundesregierung schob das Thema in eine ressortübergreifende Kommission unter Vorsitz von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Sie sprach sich 2019 unter anderem für eine gezielte Förderung strukturschwacher Regionen, eine Lösung des kommunalen Schuldenproblems und mehr sozialen Wohnungsbau aus, blieb aber bei der Umsetzung vage. „Die Kommission hat viel Papier und heiße Luft produziert, aber wenig Ergebnis“, urteilt denn auch der Landeschef der NRW-Grünen, Felix Banaszak. Für das Ruhrgebiet sei die Kommission ein „Reinfall“ gewesen, so der Duisburger. Auch Roland Mitschke, langjähriger CDU-Fraktionschef im Ruhrparlament, sieht „das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse noch nicht erreicht“. In Strukturdaten wie Bruttoeinkommen und Eigentumsquoten beim Wohneigentum lägen Ruhrgebietsstädte weiter zurück, so der Bochumer.

Verkehr

Ob Straßen, Schienen oder Nahverkehr: Verkehrspolitik ist nicht allein Aufgabe des Bundes. Doch der Ausbau und die Instandhaltung der Verkehrswege verschlingt Summen, die nur der Bund schultern kann. Und Bundesmittel gab‘s in den vergangenen Jahren reichlich. Allein für den Bau von Autobahnen und Bundesstraßen flossen seit 2017 knapp 600 Millionen Euro zusätzlich zu den ohnehin geplanten Milliarden nach NRW. Ein Gutteil der Mittel wird derzeit im Revier verbaut, wie die aktuelle Baustellendichte belegt.

Auch im Nahverkehr ließ sich der Bund nicht lumpen und stockte die Jahr für Jahr ausgezahlten Regionalisierungsmittel deutlich auf – entschieden wurde das in Berlin allerdings schon 2016 noch vom Kabinett Merkel III. Ob das für das ständig verkehrsinfarkt-gefährdete Ruhrgebiet ausreicht? Zweifel sind angebracht. Grünen-Landeschef Banaszak kritisiert den schleppenden Ausbau der Schiene und fordert, stillgelegte Bahnstrecken zu reaktivieren. Banaszak: „Das hätte längst geschehen können.“
Ralf Witzel, Vizefraktionschef der FDP im Düsseldorfer Landtag, sieht beim Fernstraßennetz große Defizite in der zentralen Nord-Süd-Verbindung und eine Überlastung der Ost-West-Achsen im Ruhrgebiet. „Hier brauchen wir eine andere Priorisierung“, so Witzel. Als Beispiel nannte der Essener den Weiterbau der A52. CDU-Mann Mitschke sieht das Ruhrgebiet selbst in der Pflicht, sich in Berlin Gehör zu verschaffen. Das Ruhrgebiet sollte sich trauen, beim Bund mit einem richtig großen Verkehrsprojekt aufzuschlagen, etwa dem Plan eines metropolengerechten ÖPNV.

Klimaschutz

Der Klimawandel trifft das dicht besiedelte Ruhrgebiet erheblich. Andererseits bilden Schwerindustrie, Flächenversiegelung und Verkehrsaufkommen im Revier einen idealen Nährboden für hohe Umweltbelastungen. Grünen-Landeschef Banaszak wirft dem Bund große Versäumnisse beim Klimaschutz vor, die sich nicht aufs Ruhrgebiet allein beschränkten, in dieser Industrieregion aber besonders spürbar seien. „Weder Bund noch Land haben sich ernsthaft dafür eingesetzt, dass beim großen Green-Deal der EU das Ruhrgebiet angemessen berücksichtigt wird“, so der Grüne, der erstmals für den Bundestag kandidiert. Die neue Bundesregierung müsse dringend mit der Industrie einen klimapolitischen Pakt schließen. Banaszak: „Eine zentrale Aufgabe.“ Der Bund solle Rahmenbedingungen dafür setzen, "dass Klimaschutz und unternehmerisches Handeln in Einklang gebracht werden können - etwa beim Umbau der Stahl- und Chemieindustrie zur Klimaneutralität."

Kanalnetz

Erst auf Druck örtlicher SPD-Bundestagabgeordneten bewilligte die Bundesregierung 2020 Geld für 72 neue Stellen, die die Befahrbarkeit der Kanäle und Schleusen im Revier sichern sollen. Für den Essener FDP-Politiker Ralf Witzel kümmert sich der Bund dennoch viel zu wenig um die in seiner Zuständigkeit liegenden Wasserstraßen. Dabei seien die für den Güterverkehr wichtigen Kanäle „hochgradig sanierungsbedürftig“.