Essen. Die Ansteckungen durch die Delta-Variante nehmen zu: Der Essener Virologe Ulf Dittmer fordert Massenveranstaltungen im Innern nur für Geimpfte.
Langsam steigen durch die Delta-Variante die Inzidenzwerte wieder, in Nordrhein-Westfalen und überall in Deutschland. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn warnte angesichts der steigenden Zahlen gar von einer Inzidenz von 800 im Herbst. Doch Prognosen dieser Art lassen sich derzeit kaum aufstellen, erklärt Prof. Dr. Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie am Uniklinikum Essen, im Gespräch mit dieser Redaktion.
Der Virologe schätzt die jüngsten Entwicklungen der Corona-Pandemie rund um die „vierte Welle“, die Delta-Variante und die Debatte um eine Impfpflicht ein. „Es ist nicht nachvollziehbar, dass Getestete und Geimpfte die gleichen Rechte haben. Eine negativ getestete Person hat ein deutlich höheres Risiko, sich selbst und andere zu infizieren“, sagt Dittmer, der zudem fordert, bestimmte Massenveranstaltungen nur für Geimpfte zu planen. Der Virologe über ...
... die aktuellen Entwicklungen und den Anstieg der Inzidenzen: Die Delta-Variante spielt eine entscheidende Rolle bei dem Anstieg. Leider frisst dieses Virus Teile des Wetter-Effektes, der die Lage im Sommer entspannt, auf. Auch Urlauber führen Infektionen von Reisen nach Deutschland ein. Es wird sich aber auch nicht mehr an manche Regeln gehalten.
Delta-Variante: Wieso es weitere Neuinfektionen geben dürfte
… eine vierte Welle: Es kommt darauf an, wie man den Begriff Welle definiert. Wenn man die Situation der Infektionszahlen betrachtet, dann befinden wir uns zumindest am Anfang der vierten Welle. In den Krankenhäusern ist das aber noch nicht zu spüren. Andere Länder befinden sich schon mitten in der vierten Welle. Es lässt sich aber nicht prognostizieren, wie sich die Zahlen in Deutschland genau entwickeln werden. Das wird von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst. Dass es aber mehr Infektionen geben wird als jetzt, ist ziemlich sicher.
… die Abkehr von der Inzidenz als Kennziffer: Die Inzidenzen dürfen auf keinen Fall der einzige Messwert für die Entscheidung über Schutzmaßnahmen sein. Früher war alles an die Inzidenzen gekoppelt. Waren sie hoch, stiegen die schweren Verläufe und die Krankenhauseinweisungen. Durch die Impfung wurde dies zum Teil entkoppelt. Geimpfte können sich infizieren, aber die allermeisten Geimpften erkranken nicht oder nicht schwer.
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Zudem sind vor allem die Älteren geimpft. Wir brauchen weitere klinische und medizinische Parameter, die möglichst früh liegen. Zum Beispiel die Krankenhauseinweisungen aufgrund von Covid-19 oder die direkten Aufnahmen auf die Intensivstationen aufgrund von Covid-19.
… die Maßnahmen und Regeln in Deutschland: Es wurde nachgebessert. Ich habe nicht verstanden, dass in geschlossenen Räumen zum Teil der Mund-Nase-Schutz abgenommen werden durfte und dass die Testpflicht in bestimmten Inzidenzstufen für ungeimpfte Personen abgeschafft wurde. Das wurde jetzt zum Teil zurückgenommen. Damit wir die Zahlen geringhalten und viele Menschen vor einer schweren Erkrankung schützen, müssen möglichst viele aus der Bevölkerung geimpft werden. Die aktuelle Impfquote von nur 60 Prozent ist nicht ausreichend.
… die Debatte um Impfanreize und Freiheiten für Geimpfte: Es ist eine individuelle Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht. Klar muss sein, dass wir bei den jetzigen Impfquoten weiterhin mit dem Zustand der Pandemie leben müssen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Getestete und Geimpfte die gleichen Rechte haben. Eine negativ getestete Person hat ein deutlich höheres Risiko, sich selbst und andere zu infizieren.
Personen, die sich nicht impfen lassen und in sensiblen Berufen arbeiten, können zudem eine unglaubliche Bedrohung für andere sein. Es gibt nämlich Menschen, die sich aufgrund ihrer Gesundheit nicht komplett vor einer Erkrankung schützen können, trotz Impfung. Diese müssen wir als Gesellschaft schützen. Niemand ohne Impfung sollte deshalb immunsupprimierte Patienten behandeln oder pflegen.
… Berichte über eine nachlassende Impfwirkung aus Israel: Die nachlassende Impfwirkung hängt mit dem Alter zusammen. Wir brauchen eine Debatte darüber, ob im Herbst und Winter Auffrischungsimpfungen angeboten werden sollten.
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… Long Covid: Das Wort hat inzwischen jeder gehört, aber nur wenige dürften wissen, wie häufig Personen daran erkranken. Daten aus England zeigen, dass jeder zweite Erkrankte, der im Krankenhaus behandelt wurde, anhaltende Long-Covid-Symptome zeigt. Das ist eine sehr große Beeinträchtigung, die Personen sind eingeschränkt in ihrer Leistung. Vielen ist diese Gefahr nicht bewusst. In der Politik wird darüber nur wenig diskutiert. Bei Kindern sind die Daten bisher nicht so eindeutig wie bei Erwachsenen.
… Herdenimmunität und Durchseuchung: Das ist ein komplexes Thema. Eine Herdenimmunität ist bei Delta sowieso schwierig zu erreichen. Wir kommen noch weiter weg von der Herdenimmunität, wenn Kinder ab zwölf Jahren nicht geimpft werden. Junge Menschen erkranken aber seltener schwer an Covid-19. Der Impfstoff muss deshalb für Kinder ungeheuer sicher sein. Ausreichende Daten dazu haben wir noch nicht vorliegen. Es werden zurzeit Daten aus den USA ausgewertet. Erst wenn diese Daten vorliegen, können Nutzen und Risiko abgewogen werden. Die Entscheidung über die breite Anwendung von Impfstoffen für Kinder müssen Kinderärzte treffen.
Delta-Variante: Virologe plädiert für „sinnvolle Hygienemaßnahmen“
… den Blick ins Ausland: Dort sieht man eine Kombination aus der Delta-Variante und dem Aufheben von vielen Maßnahmen. Die Menschen sind müde von den Maßnahmen, in anderen Ländern noch mehr als hier. Die Regeln werden nicht mehr so stark befolgt, vor allem von jüngeren Menschen. Das zeigt sich daran, dass die Infektionszahlen bei den 15- bis 35-Jährigen rasant gestiegen sind.
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… Massenveranstaltungen und Schlussfolgerungen: An der frischen Luft sinkt das Infektionsrisiko, aber es geht nicht auf Null. Wären Fußballstadien voll gefühlt und Tausende Personen gleichzeitig in einer Fankurve, dann kann man sich auch dort infizieren. Bei den jetzigen Konzepten für Bundesliga-Spiele ist das Risiko aber gering. Im Innenbereich wird es bei Veranstaltungen mit über 1000 Personen kritisch. Wir sollten uns aber trauen, Veranstaltungen für vollständig geimpfte Menschen zu planen. Für alle anderen Personen halte ich das Risiko in Anbetracht der Delta-Variante für zu hoch.
Es wird darum gehen, sinnvolle Hygienemaßnahmen weiterzuführen, die schützen, aber das Leben so wenig wie möglich einschränken. Dazu gehört das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes. Alle Maßnahmen über Bord zu werfen, ergibt jedenfalls in der derzeitigen Situation keinen Sinn.