Essen. Die Corona-Pandemie in Deutschland geht zu Ende, sagt der Virologe Ulf Dittmer. Das bedeute aber nicht, dass das Virus für immer verschwindet.
Die dritte Welle der Corona-Pandemie scheint gebrochen, und es mehren sich die Zeichen für ein Abklingen der Pandemie. „Ich rechne nicht mit einer vierten Welle in Deutschland“, sagt der Essener Virologe Prof. Ulf Dittmer im Gespräch mit Christopher Onkelbach. Nach mehr als 3,7 Millionen Infizierten und über 89.000 Verstorbenen in Deutschland befindet sich die Kurve der Neuinfektionen in einem steilen Sinkflug. Zeit für eine erste vorsichtige Bilanz, was in der Pandemie gut, was schlecht lief. Was Politik und Medizin aus dem Kampf gegen das Corona-Virus gelernt haben und wo es in Zukunft noch Verbesserungen geben muss.
Prof. Dittmer, die dritte Welle ebbt offensichtlich ab, was war dafür ausschlaggebend?
Ulf Dittmer: In erster Linie natürlich die Impfungen. Wir wissen aus anderen Ländern, dass die Verbreitung des Virus gebremst wird, wenn 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung eine Erstimpfung erhalten haben. Dann sinken die Inzidenzzahlen, es sei denn, das Virus zirkuliert noch sehr stark in bestimmten Gruppen, die noch nicht geimpft sind, wie wir es bei den orthodoxen Juden in Israel erlebt haben. Auch die breite Diskussion um die Bundesnotbremse hat dazu beigetragen. Dadurch haben sich viele Menschen entsprechend verhalten noch bevor die Maßnahmen überhaupt in Kraft getreten sind.
Müssen wir mit einem erneuten Anstieg der Inzidenzwerte rechnen?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keinen breiten Anstieg mehr geben wird. Es kann sein, dass das Virus noch in Gruppen zirkuliert, die sich nicht impfen lassen wollen oder die noch nicht an der Reihe waren. Aber ich rechne nicht mit einer vierten Welle. Die Impfstoffe, die wir jetzt zur Verfügung haben, sind hoch wirksam und schützen auch vor Infektionen. Aus aktuellen Studien wissen wir, dass sie auch bei den Virus-Varianten einen guten Schutz vor schweren Krankheitsverläufen bieten, das zeigen die Daten für die englische, die indische und die südafrikanische Variante.
Welche Fortschritte gab es bei der Therapie der Covid-Patienten?
Es gab große Fortschritte. Wir in Essen waren dabei auch vorbereitet durch die Kollegen im chinesischen Wuhan, mit denen wir seit Jahren eng zusammenarbeiten. Dennoch haben wir Anfang 2020 natürlich trotzdem nicht alles richtig gemacht.
Wie wurde die Behandlung verändert?
Wir haben vor allem drei Dinge gelernt. Erstens: Alles, was direkt gegen das Virus wirkt, wie zum Beispiel das Mittel Remdesivir, muss sehr früh gegeben werden, unbedingt noch bevor es zu einer schweren Erkrankung kommt. Zweitens mussten wir lernen, dass sich bei einem schweren Verlauf das Immunsystem des Patienten gegen sich selbst richtet, etwa gegen das Lungengewebe. Daher muss das körpereigene Immunabwehr unterdrückt werden. Und drittens müssen Gerinnnungshemmer früh verabreicht werden, um Gerinnungsstörungen zu verhindern, die zu Schlaganfällen oder Embolien führen können.
Können Sie dadurch künftig alle Patienten heilen?
Wir haben die Therapie der Covid-Patienten optimiert. Doch leider führt das nicht dazu, dass wir alle Patienten retten können. Es gibt immer noch Verläufe, die uns vor Rätsel stellen und sich nichts verbessert, egal was wir tun.
Wurde die Medizin von der Gefährlichkeit des Virus überrascht?
Nein, uns war schnell klar, was da auf uns zukommen kann. Überrascht und alarmiert waren wir allerdings von Ereignissen wie in Bergamo, wo das Gesundheitssystem völlig überlastet war und Menschen auf den Klinikfluren gestorben sind. Solche Zustände hatten wir uns in Europa nicht vorstellen können.
Was können Politik und Medizin künftig besser machen?
Es gibt zwei Bereiche, die man optimieren müsste. Wir haben gesehen, wie schnell das Virus um die ganze Welt zieht. Daher brauchen wir unbedingt eine bessere internationale Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung. Vor allem mit den asiatischen Staaten. Das Robert-Koch-Institut ist aufgefordert, hier sehr enge Kontakte auch zu China zu knüpfen. Wir müssen unsere Frühwarnsysteme besser vernetzen.
Und der zweite Bereich?
Die Flughäfen! Es gab zu lange überhaupt kein Konzept, wie man den Eintrag des Virus über die Flughäfen verhindern kann. Es dauerte bis nach den Sommerferien im August, bis endlich mit Tests reagiert wurde. Das hat ganz erheblich zu einer Verbreitung des Virus beigetragen, dabei war das Problem bekannt.
Welche Versäumnisse gab es im Rückblick?
Unsere Abhängigkeit von medizinischen Produkten wurde uns zu Beginn schmerzlich bewusst. Es fehlten Masken, die ja ausgerechnet in Wuhan produziert wurden. Doch China hatte von einem Tag auf den anderen die Fabriken geschlossen. Auch für die Diagnostik fehlten uns plötzlich Chemikalien und Plastikartikel. Das wurde alles in China oder Indien hergestellt.
Auch die Impfstoff-Beschaffung lief nur langsam an…
Wir wollten den europäischen Weg gehen, obwohl wir geeignete Hersteller im eigenen Land haben. Das war eine politische Entscheidung. Wir hätten gerne so schnell geimpft wie Großbritannien oder Israel. Aus medizinischer Sicht ist dieser Weg kritisch zu sehen, die Verzögerung hat in Deutschland sicher einige Menschenleben gekostet. Dafür sind vermutlich in anderen europäischen Ländern Menschenleben gerettet worden.
Müssen wir uns vor einer erneuten Pandemie wappnen?
Die Corona-Pandemie wird für Deutschland zu Ende gehen. Was nicht bedeutet, dass das Virus verschwinden wird. Es wird nicht mehr weggehen. Daher werden wir sicher noch einzelne Erkrankte sehen, aber längst nicht mehr in der Dimension wie zuvor. In anderen Ländern jedoch werden wir im Winter vermutlich noch eine volle Ausbreitung des Virus erleben, aber nicht in Europa.
Was ist aus Ihrer Sicht gut gelaufen?
Deutschland war vorne, was Diagnostik und Tests anbelangt. Da waren wir schneller als andere Länder. In der Grundlagenforschung, bei der Analyse des Virus, der Erforschung der Übertragungswege und der Frage der Immunität ist die Forschung führend. Auch bei der Kapazität der Intensivbetten waren wir gut vorbereitet. In den Niederlanden gab es deutlich weniger Intensivbetten, dort wurden 80-Jährige nicht mehr beatmet. Auch Italien hatte Probleme, da zuvor Intensivkapazitäten aus Kostengründen abgebaut worden waren. Zudem war der erste Lockdown im März/April sehr effektiv. Da hat die deutsche Politik richtig gehandelt, sonst hätten wir womöglich eine Situation wie in Bergamo erleben können.
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War Deutschland im Kampf gegen die Pandemie im Vergleich mit anderen Ländern zu bürokratisch?
Der strikte Datenschutz war ein Hemmschuh in der Pandemie. Das hat Diagnostik, die Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden oder auch die Verwendung von Patientendaten für Studien erschwert. Auch im politischen Management gab es teilweise Irrwege und Chaos. Grundsätzlich sind Demokratien gegenüber zentralistisch geführten Staaten bei der Bekämpfung der Pandemie im Nachteil. Ich möchte dennoch nicht in China leben. Dort wurde zwar sehr effizient gehandelt, doch Menschenrechte wurden dafür ausgesetzt. Dort mussten die Menschen zum Teil sechs Wochen in ihrer Wohnung bleiben.
Hat sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik verändert?
Das hat sich stark entwickelt. Die Politik hat den Rat der Wissenschaft gesucht und das war wichtig. Ein Team aus sechs Virologen aus NRW war regelmäßig zu Gesprächen im Düsseldorfer Gesundheitsministerium. Dabei hat sich auch gezeigt, dass die Fachleute nicht immer einer Meinung sind, aber das gehört zur Wissenschaft dazu. Die Politik muss dann ihre Schlüsse daraus ziehen.
Sind Sie froh, wenn Sie in Zukunft nicht mehr so oft im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen?
Ich habe es als Teil meiner Aufgabe angesehen, die Bürger zu informieren und die Politik zu beraten. Aber darauf kann ich in Zukunft erstmal sehr gut verzichten.